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Romane des 19. Jahrhunderts




Charles Dickens, A Christmas Carol (1843)

Dieses Werk ist das erste von fünf Weihnachtsbüchern, die Charles Dickens zwischen 1843 und 1847 verfasste. In seinem Vorwort charakterisiert der Dichter seine Aussageintention mit folgenden Worten: "My purpose was, in a whimsical kind of masque which the good-humour of the season justified, to awaken some loving and forbearing thoughts, never out of season in a Christian land."

Im Mittelpunkt der Erzählung steht Ebenezer Scrooge, ein alter, verbitterter, geiziger Firmenbesitzer, der seinen Partner Marley nun schon sieben Jahre überlebt hat. Scrooge lebt allein, lehnt Spenden für die Armen ab und will von guten Wünschen zu Weihnachten nichts wissen. Doch plötzlich erscheint ihm der Geist seines früheren Geschäftspartners, der eine Kette trägt, dessen einzelne Glieder aus den schlechten Taten seines Lebens besteht und der als ewiger Wanderer niemals Ruhe finden wird. Marleys Geist kündigt Scrooge weitere Erscheinungen an, die für ihn die letzte Chance bedeuten, der eigenen Verdammnis zu entgehen.

Diese drei Erscheinungen verkörpern in unterschiedlichen Gestalten das vergangene, gegenwärtige und künftige Weihnachtsfest. Sie alle zeigen Scrooge Szenen aus seinem bisherigen und weiteren Leben: sie halten dem Alten einen Spiegel vor, in dem er unschwer sich selbst erkennt. Anfänglich empfindet Scrooge Abneigung und Angst, doch erfasst ihn rasch Reue und Kummer über sein Verhalten, und indem er den Anweisungen der Erscheinungen folgt, erweist er sich als lern- und wandlungsfähig. So erhöht er beispielsweise den Lohn seines bislang schlecht bezahlten Schreibers, dessen Familie am Rand des Existenzminimums lebt, und wird mit der Überwindung seiner Hartherzigkeit selbst ein zufriedener Mensch.

Zweifellos ist die Bekehrung des Ebenezer Scrooge eher eine klischeehafte Schwarz-Weiß-Zeichnung als eine psychologisch glaubwürdige Darstellung. Ob diese unerträglich sentimental oder aber doch den Erwartungen an ein Weihnachtsmärchen angemessen ist, mag jeder Leser für sich entscheiden. Die Rezeptionsgeschichte hat gezeigt, dass alle Angriffe auf das Werk dessen Erfolg nicht haben gefährden können. Charles Dickens bemüht sich nicht um eine theologische Deutung des Weihnachtsfestes, sondern zeigt vielmehr, dass menschliche Solidarität (praktische Nächstenliebe) eine wesentliche Prämisse für das Funktionieren eines Gemeinwesens darstellt und zugleich den Wohltätern der Armen zu einem erfüllteren Leben verhilft.

Die überschaubare Erzählung ist klar strukturiert. Bei Reclam wird eine Ausgabe angeboten, die (ähnlich wie im Fall von Treasure Island) annotiert, kommentiert und mit historischen Illustrationen versehen wurde. Insgesamt liegt ein Werk vor, das nicht so sehr als Unterrichtsgegenstand wie als Lesetext zu empfehlen ist. Von seinen sprachlichen Ansprüchen her ist die Erzählung etwa von der Klasse 11/2 an einsetzbar.


Charlotte Brontë, Jane Eyre (1847)

Dieser streckenweise autobiographisch gefärbte Roman schildert das bewegende Schicksal der mittellosen Jane Eyre aus deren eigener Perspektive. Als Waisenkind kommt sie früh in ein Internat, in dem sie zwar jahrelang Schikanen erdulden muss, in dem sie sich aber auch als gute Schülerin erweist. Schließlich findet sie eine Stellung auf Thornfield Hall, im Hause des begüterten Mr Rochester, der eine Erzieherin für seine Tochter sucht. Jane Eyre und Mr Rochester verlieben sich ineinander und beschließen, die Ehe einzugehen.

Doch wird die Trauungszeremonie nachhaltig gestört, als ein Anwalt die Beschuldigung erhebt, Mr Rochester sei bereits verheiratet. Diese Behauptung erweist sich als wahr: Tatsächlich ist Rochester bereits liiert, und zwar mit einer nicht mehr zurechnungsfähigen Frau, die in seinem Hause lebt und von jedem Kontakt mit der Außenwelt abgeschnitten ist. Jane Eyre weigert sich, Rochesters Geliebte zu werden und verläßt ihn. Doch ihre Liebe für ihn bleibt.

Jahre später findet sie Thornfield Hall als Ruine wieder: Rochesters wahnsinnige Frau hat Feuer gelegt, und bei dem verzweifelten und vergeblichen Versuch, sie zu retten, hat Rochester sein Augenlicht verloren. Jane und Rochester werden nun doch ein Paar. Rochester erlangt noch vor der Geburt des ersten Sohnes wenigstens teilweise seine Sehkraft zurück, so dass der Roman zu einem glücklichen Ende kommt.

Diese bewegende Liebesgeschichte gehört zu den Klassikern des 19. Jahrhunderts, dessen Lektüre für jeden Literaturliebhaber einen Genuss darstellt. Ob der Roman auch Schüler der Jahrganggstufe 12 oder 13 zu begeistern vermag, erscheint zweifelhaft.


Henry James, Daisy Miller (1878)

Dieser Kurzroman wurde sofort nach seiner Erstveröffentlichung ein Bestseller. Er behandelt ein für Henry James charakteristisches Thema, nämlich die Konfrontation der Amerikaner mit Europa. Die Handlung des Werkes lässt sich mühelos zusammenfassen.

Der junge Amerikaner Mr Winterbourne lernt in der Schweiz seine Landsmännin Daisy Miller kennen, die mit ihrer Mutter, ihrem jüngeren Bruder und einem Diener Europa bereist. Seine Tante Costello lehnt die Bekanntschaft der Millers ab, weil diese für sie zu 'gewöhnlich' sind und deren soziale Stellung nicht der ihrigen entspricht. Dennoch verabreden die jungen Leute, gemeinsam einen Ausflug zu einem sich in der Nähe befindlichen alten Schloss zu unternehmen. Mr Winterbourne glaubt, dass seine Person nicht ohne Einfluss auf Daisy geblieben ist, und daher stimmt er gern ihrem Vorschlag zu, sich im Winter in Rom erneut zu treffen.

Als er Ende Januar dort eintrifft, hat sich Daisys Gesundheit sehr verschlechtert: anscheinend bekommt ihr das römische Klima nicht. Doch lässt sie sich nicht davon abhalten, ohne Rücksicht auf ihren guten Ruf ihren Interessen und Neigungen nachzugehen. Sie lässt sich von mehreren Freiern gleichzeitig umwerben, flirtet mit ihnen und empfängt im Hotel nächtlichen Besuch. Ihr Verhalten wird von der römischen Öffentlichkeit als skandalös empfunden, und als Folge davon wird sie von vielen Familien bewusst gemieden.

Winterbourne versucht, Daisy so oft wie möglich zu sehen, aber wenn er sie antrifft, ist sie nie allein. Sie denkt und handelt rein spontan, d.h. von Tag zu Tag und von Stunde zu Stunde, und wirft ihrem Landsmann vor, zu steif zu sein. Schließlich erkrankt sie am römischen Fieber und stirbt nur eine Woche später. Vor ihrem Tod äußert sie ihrer Mutter gegenüber den Wunsch, Winterbourne möge erfahren, dass sie nicht verlobt gewesen sei. Es bleibt bei dieser Andeutung, dass sie vielleicht doch Winterbournes Gefühle erwiderte.

Der überschaubare Text (ca. 75 S.) vermittelt das Bild einer jungen Frau, die sich nicht den europäischen Konventionen beugt. Daisy Miller ist eine junge Amerikanerin, die frei sein, sich entfalten und ihre Identität finden möchte, ohne auf ihre Partner und die Gesellschaft Rücksicht zu nehmen: sie verhält sich wie eine moderne, emanzipierte Frau. Das Werk konzentriert sich auf wenige Episoden im Leben des jungen Paares und ist daher von Henry James zu Recht als Studie bezeichnet worden. Schon wegen seiner gepflegten Sprache ist die Lektüre empfehlenswert. In literarisch interessierten Klassen ist der Roman von der Jahrgangsstufe 11/2 an einsetzbar.


Robert Louis Stevenson, Treasure Island (1883)

Dieser Roman aus der Feder des schottischen Schriftstellers Stevenson ist eine Abenteuergeschichte besonderer Art. Zum überwiegenden Teil werden die Ereignisse aus der Sicht des jungen Jim Hawkins geschildert. Im väterlichen Gasthaus in England stirbt ein gewisser Captain Flint, ein ehemaliger notorischer Seeräuber. In seinem Besitz befindet sich ein Lageplan, welcher auf einer weit entfernten Insel den Weg zu einem ungeheuren Schatz weist.

Einige Freunde Jims und seiner Familie beschließen, in Bristol einen Schoner zu kaufen, um diesen Schatz in ihren Besitz zu bringen. Was sie indes nicht ahnen, ist, dass sich unter der Mannschaft ehemalige Kumpane Flints befinden, die ebenfalls auf Schatzsuche sind und nur auf den richtigen Augenblick warten, um loszuschlagen und das Schiff in ihre Gewalt zu bringen. Zu ihnen zählt der zwielichtige Koch Long John Silver, der sich nur auf Krücken fortbewegen kann, weil er ein Bein verloren hat.

Die Seereise verläuft ohne besondere Vorkommnisse, doch mit der Ankunft auf der Schatzinsel spitzen sich die Ereignisse dramatisch zu. Der größte Teil der Mannschaft wählt Silver zu ihrem Anführer, es kommt zu einem ersten offenen Kampf mit zahlreichen Toten und Verwundeten auf beiden Seiten. Der jugendliche Jim Hawkins spielt dabei immer mehr eine entscheidende Rolle. Wiederholt ergreift er die Initiative, wobei er durch leichtsinniges und eigenmächtiges Verhalten selbst in Gefahr gerät. Doch ist das Glück und das Schicksal auf seiner Seite. Wie die Freunde schließlich trotz des doppelten Spiels, das Silver betreibt, ihr Vorhaben erfolgreich zu Ende bringen, das bietet einen auch heute noch überaus spannenden, von unerwarteten und wechselvollen Geschehnissen geprägten Lesestoff.

Die Reclam-Ausgabe des Werkes enthält - wie die meisten fremdsprachigen Texte dieses Verlages - sprachliche und sachliche Annotationen, ein sehr lesenswertes Nachwort und die historischen Illustrationen der französischen Ausgabe von 1885. Für (nicht nur jugendliche) Freunde des Abenteuerromans wird somit ein literarischer Leckerbissen zugänglich gemacht, der etwa von der Stufe 12/1 an zur Schulung des extensiven Lesens mit Nachdruck empfohlen werden kann.


Robert Louis Stevenson, Dr. Jekyll and Mr Hyde (1886)

Mit diesem Werk gelang dem schottischen Autor Robert Louis Stevenson der literarische Durchbruch. Unmittelbar nach seinem Erscheinen löste der Roman bei der literarischen Kritik eine überwältigende positive Resonanz aus und wurde gleichzeitig innerhalb weniger Monate ein ungeheurer Verkaufserfolg. Auch wenn der moderne Leser - nicht zuletzt aufgrund der zahlreichen Verfilmungen des Werkes - vor Beginn der Lektüre weiß, dass Dr. Jekyll und Mr Hyde die gleiche Person sind, ist der Roman noch heute lesenswert, weil er zu Recht als der literarische locus classicus über die menschliche Persönlichkeitsspaltung gilt.

Damit behandelt Stevenson ein psychologisches und gleichzeitig ein moralisches Problem, den Konflikt zwischen Gut und Böse, zwischen der Neigung zu kriminellen Handlungen einer- und der mahnenden Stimme des Gewissens andererseits. Wenn Dr Jekyll versucht, die Trennung des Guten und Bösen zu realisieren, möchte er auf diese Weise einen in der menschlichen Natur angelegten, immerwährenden Konflikt lösen. Zwar sieht er mögliche Gefahren, doch ist der Entdeckerdrang stärker, und er entschließt sich mit Hilfe einer selbst entwickelten Droge zum Experiment an seiner eigenen Person. Dieser Versuch zur Manipulation der menschlichen Natur scheitert nicht nur, sondern richtet letztendlich auch den Verursacher zugrunde.

Die Geschehnisse werden zielstrebig und konsequent erzählt. Zunächst wird von sehr seltsamen Dingen berichtet: zu Beginn wird ein junges Mädchen auf grausame Weise verletzt, dann wird ein Mann ermordet, und schließlich erleidet ein anderer einen Schock, verfällt zusehends und stirbt. Wie der geheimnisvolle, nur des Nachts tätige Mr Hyde in diese Vorfälle verwickelt ist, erfährt der Leser Stück für Stück, wobei die einzelnen Informationen wie die Teilchen eines Puzzles zusammenpassen sowie nach und nach ein lückenloses Bild ergeben. Der Roman liest sich weitgehend wie eine spannende, gut strukturierte Kriminalerzählung, in dem die Technik der allmählichen Enthüllung angewendet wird.

Die endgültige Aufklärung und damit die Befriedigung der Leserneugierde findet sich im letzten Kapitel. Dieses besteht aus einem Brief, den Dr. Jekyll seinem Anwalt hinterlässt, der zugleich den größten Teil der Geschichte erzählt. Letztlich wird es Dr. Jekyll unmöglich, die von ihm angestrebte Identität des Mr Hyde, der Verkörperung des Bösen, wieder abzustreifen, und so wird er Opfer des eigenen ehrgeizigen und anmaßenden Strebens nach Macht über die Natur.

Von diesem Werk liegt bei Reclam seit 1984 eine annotierte und kommentierte Schulausgabe vor. Der Roman, der ca. 110 Seiten umfasst, ist sprachlich leicht zugänglich und erfordert auch aufgrund seiner spannenden Handlung eine relativ geringe Lesezeit. Von daher ist das Werk etwa von der Klasse 11/2 an einsetzbar und sicher unter den wenigen aus dem 19. Jahrhundert vorgeschlagenen Titeln eine empfehlenswerte Wahl. Doch sollte die Ziel- und Schwerpunktsetzung eher auf der Schulung des kursorischen Lesens als auf einer ausgedehnten Textinterpretation liegen.


Robert Louis Stevenson, The Bottle Imp (1891)

Im Mittelpunkt dieser Erzählung steht ein Bewohner der Insel Hawaii namens Keawe und sein ungewöhnliches Schicksal. Dieser wird schon im ersten Kapitel mit dem im Titel des Werkes angesprochenen Flaschenkobold konfrontiert, dem stets gehorsamen und beinahe allmächtigen Diener des Flaschenbesitzers. Nur eines vermag der Kobold nicht: er ist nicht Herr über Leben und Tod, d.h. er vermag nicht, menschliches Leben zu verlängern. Und wer bei seinem eigenen Tod die Flasche besitzt, wird auf ewig verdammt sein.

Darüber hinaus ist der Verkauf der Flasche nur möglich, wenn der Eigentümer einen niedrigeren Preis verlangt, als er selbst beim Kauf zahlte. Obwohl Keawe das mit dem Besitz der Flasche verbundene Risiko erkennt, entschließt er sich zum Kauf. Er lässt sich vom Geist der Flasche ein über alle Maßen luxuriöses Haus einrichten, verkauft sie aber sofort danach. Als er schließlich Kokua kennenlernt, verliebt er sich auf den ersten Blick in sie und hält erfolgreich um ihre Hand an.

Noch am gleichen Abend entdeckt er die ersten Anzeichen der Lepra-Krankheit an sich, und nun beherrscht ihn nur noch ein Gedanke: er möchte die Flasche zurück, um mit ihrer Hilfe seine Gesundheit zu erlangen. Den Besitzer ausfindig zu machen, erfordert eine lange Suche: er folgt den Spuren von jüngst erworbenen Reichtümern. Da die Flasche viele Male ihren Besitzer gewechselt hat, ist ihr Preis ständig gefallen: zur Zeit liegt er bei zwei Cent. Keawe ist es durchaus klar, dass er keine Aussicht hat, sich ihrer zu entledigen, wenn er sie zu diesem Preis kauft, aber dennoch erwirbt er sie und opfert sein Seelenheil aus Liebe zu seiner Frau.

Keawe und Kokua heiraten, doch erkennt sie bald, warum er nicht glücklich ist, und sie weiß einen Ausweg: in Frankreich gibt es die Münze Centime, von denen vier zusammen einen geringeren Wert haben als ein Cent. Sie überredet einen alten Mann, ihrem Gatten die Flasche für vier Centimes abzukaufen und diese anschließend für drei Centimes an sie weiter zu verkaufen. Aber Keawe durchschaut dieses Manöver und will es nicht hinnehmen. Er findet einen dem Trinken verfallenen Seemann, der den Teufel nicht fürchtet: dieser kauft Kokua die Flasche für zwei Centimes ab, genießt die so gewonnene Macht und ist entschlossen, sie bis zu seinem Tode zu besitzen. Von der Stunde an sind Keawe und Kokua ein glückliches Paar: durch ihre Liebe zueinander und durch ihre selbstlose Opferbereitschaft sind sie den Fallstricken des Bösen entkommen.

Das Motiv der Versuchung durch den Teufel, das sowohl aus der Bibel als auch aus Goethes Faust bekannt ist, wird von Stevenson wie ein Märchen gestaltet. Vom Umfang her (50 Seiten in dem bei Reclam üblichen kleinen Format) liegt die Erzählung vom Flaschengeist auf der Grenze zwischen einer längeren Short Story und einem Kurzroman. Die Ökonomie der sprachlichen Mittel (die Lexik wie auch die Syntax) eröffnet einen raschen Zugang zum Text, der von der Sprache schon leicht in der Jahrgangstufe 11/1 zu bewältigen ist. Die Erzählung stellt eine ideale Option dar, solange der Leser an spannenden Abenteuergeschichten interessiert ist. M.E. ist das Werk eher für die private Lektüre als für den Englischunterricht zu empfehlen.


Oscar Wilde, The Picture of Dorian Gray (1891)

Oscar Wilde ist in der Schule eher als Komödienautor bzw. als Verfasser der beliebten Erzählung The Canterville Ghost bekannt. Das o.g. Werk ist sein einziger Roman überhaupt, in dem es u.a. um den Zusammenhang von Kunst und Moral geht.

Der Maler Basil Hallward arbeitet in seinem Studio an dem Portrait eines schönen, begüterten, jungen Mannes, auf den bereits im Titel angespielt wird. Mit Hilfe seiner Kunst gestaltet der Maler seine mit deutlichen homoerotischen Zügen versehene Verehrung für seinen Freund. Angesichts des künstlerischen Meisterwerks ruft Dorian Gray aus: "If it were I who was to be always young, and the picture that was to grow old! ... I would give my soul for that!" Dieser Ausspruch, der unschwer an Fausts Pakt mit dem Teufel erinnert, belegt, dass der Protagonist um den Preis ewiger Jugend seine Seele verkauft.

Wenig später verliebt sich Dorian Gray in die junge Schauspielerin Sybil Vane und ist zur Heirat mit ihr entschlossen. Weil sie wahre Liebe empfindet, möchte Sybil nach der Eheschließung auf die Ausübung ihres Berufs verzichten, denn ihre Kunst ist für sie gleichbedeutend mit ständiger Verstellung. Diesen Standpunkt kann Dorian Gray nicht akzeptieren und sagt sich abrupt von ihr los. Als er aber beim Betrachten seines Portraits sieht, wie sich das Bild verändert und er einen Zug der Grausamkeit um seinen Mund entdeckt, will er seinen Entschluss rückgängig machen und Sybil Vane um Verzeihung bitten. Doch erreicht sein Brief die junge Künstlerin zu spät: sie hat verzweifelt ihrem Leben ein Ende gesetzt.

In der Folgezeit wird Dorian Gray von einer seltsamen inneren Unruhe heimgesucht. Das Portrait hält er jahrelang im Dachgeschoss seines Hauses verborgen, und wann immer er es betrachtet, spiegelt es seinen unmoralischen Lebenswandel und seinen Alterungsprozess wider. Als Basil Hallward den von ihm verehrten Gray bittet, gemeinsam mit ihm um Vergebung zu flehen, wird er von seinem Freund erstochen. Jahre später wiederum entgeht Dorian Gray selbst nur knapp einem Anschlag auf sein Leben: Sybil Vanes Bruder will den Tod seiner Schwester rächen, doch hält er Gray aufgrund seiner unverändert jugendlichen Erscheinung für einen Doppelgänger des von ihm Gesuchten und lässt im letzten Augenblick von seinem Opfer ab.

Eines Tages kann der Protagonist den Anblick des Bildes nicht mehr ertragen und will es zerstören. Seine Diener finden einen gealterten Dorian Gray schließlich mit einem Messer im Herzen - und das jugendliche Portrait ihres Herrn.

Wilde hatte es schwer, mit diesem Werk bei seinen Zeitgenossen Akzeptanz zu finden. Dennoch ist bei einer moralischen Auseinandersetzung mit der Thematik zu beachten, dass Dorian Gray für seine Laster und seinen Lebenswandel bestraft wird, d.h. dass der Roman keineswegs unmoralisch, sondern eher mit einer Fabel vergleichbar ist. Sicher stellt der Text einerseits erhebliche Ansprüche an das Rezeptionsvermögen junger Leser, andererseits erzeugt die Lektüre durch Elemente des gothic novel eine erhebliche Spannung: vgl. z.B. das Doppelgängermotiv, die Darstellung der Persönlichkeitsspaltung, die narzisstische Beschäftigung mit dem eigenen Spiegelbild, der Prozess des moralischen Verfalls oder die Gestaltung der unheilvollen Atmosphäre.

Seit einiger Zeit steht eine didaktische Ausgabe bei Reclam zur Verfügung. Dazu gibt es in der Fachliteratur einen neueren Aufsatz, der über einen erfolgreichen Einsatz des Romans in einem Leistungskurs der Jahrgangstufe 13 berichtet (vgl. Bibliographie: Klaus Werner).


Last Updated by Dr. Willi Real on Monday, 22 January, 2007 at 10:28 AM.

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