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Postmoderne Erzählliteratur




Kurt Vonnegut, Cat’s Cradle (1963)

In vielem weist Cat’s Cradle auf Slaughterhouse Five voraus. Beide Werke zeichnen sich durch eine schier endlose Kette phantastischer Einfälle ihres Autors aus. In beiden Romanen finden sich extrem kurze Erzählblöcke, die eine gewandelte Textwahrnehmung des Lesers verlangen, und ebenso sind beide Male die geschilderten Figuren eher schablonenhafte Statisten als dreidimensionale Individuen. Dazu wird die Genese beider Werke zum integrierten Bestandteil der Texte und führt zu einer ironischen (nicht ernstzunehmenden) Eigencharakterisierung des Autors.

Die Handlungsführung in beiden Romanen ist indes nicht vergleichbar. In Cat’s Cradle gibt es keinerlei Raum- und Zeitsprünge, keine Handlungsführung auf verschiedenen Ebenen, wird nicht das Kausalitätsprinzip zugunsten der Dominanz scheinbar willkürlicher Assoziationen aufgegeben. Das heißt, dass dem mit konventionellen Erzähltexten vertrauten Leser der frühere Roman leichter zugänglich ist, oder anders ausgedrückt, dass Vonnegut seine postmoderne Erzählweise in Slaughterhouse Five noch weiter entwickelt.

Cat’s Cradle war laut Aussage des Erzählers eigentlich als ein Buch über das Ende der Welt geplant, oder konkret gesagt, als eine Schilderung der Ereignisse am Tag des Bombenabwurfs auf Hiroshima. Diese Intention erforderte seine Auseinandersetzung mit dem Leben der Hoenikker-Familie, in deren Zentrum Felix Hoenikker steht, einer der Väter der ersten Atombombe. Felix Hoenikker war als genialer Kopf auch noch für eine zweite Erfindung verantwortlich: mit dem sog. ice-nine erfand er ein Kristall, bei dem Wasser zu Eis gefriert, das als militärische Waffe gedacht war, um der amerikanischen Marine das Kämpfen zu erleichtern.

Auch wenn Felix Hoenikker hohes internationales Ansehen erlangte und aufgrund seiner Erfindungen zu Recht mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, war er alles andere als ein guter Mensch. Sein gesamtes Interesse galt so sehr der Wissenschaft, dass er alle ethischen und ästhetischen Fragen gänzlich ignorierte. Wie ein Mann ohne Gewissen lebte er in einem moralischen Vakuum, blieb praktisch auf der Entwicklungsstufe eines Achtjährigen stehen und war wegen seiner infantilen Neigungen zur Erziehung seiner drei Kinder, die durch einen Autounfall früh ihre Mutter verloren hatten, absolut unfähig. Diese werden das Opfer seiner Lieblosigkeit: sie alle sind äußerst kontaktarm und nahezu verhaltensgestört.

Als sie die Rechte an der Erfindung ice-nine zu gleichen Teilen erben, kommt es zur Katastrophe. Sowohl die Tochter Angela als auch die beiden Söhne Frank und Newt setzen die väterliche Erfindung nur zur Befriedigung persönlicher Bedürfnisse ein, z.B. um einen Mann, einen Traumjob zu bekommen bzw. die Liebe einer Tänzerin zu erkaufen. Damit gerät die Erfindung natürlich in falsche Hände und wird zum Weltvernichtungsmittel: alles Wasser gefriert zu Eis und macht ein weiteres Leben auf diesem Planeten unmöglich. Somit hat der Erzähler tatsächlich sein Vorhaben realisiert, ein Buch über das Ende der Welt zu schreiben. Ob er selbst als einziger überlebt wie Ismael in Melvilles Moby Dick, dem berühmtesten Seefahrerroman der amerikanischen Literatur, bleibt offen. Offen bleibt auch, wie der fertige Roman in die Hände seiner Leserschaft gelangt.

Wissenschaftliche Entdeckungen, so scheint der Autor zu argumentieren, bleiben nie folgenlos, Forschung ist nie Selbstzweck. Jede Erfindung hat eine politische Dimension, sie wird allzu leicht zur Waffe, zur Gefahr und zur Bedrohung für die Menschheit, wenn sie außer Kontrolle gerät. Letztlich erscheint für Vonnegut wissenschaftlicher Fortschritt so sinnlos wie das menschliche Dasein überhaupt. Diese Überzeugung kommt auch im Titel zum Ausdruck, der auf ein weit verbreitetes Kinderspiel ("Schweinchen auf der Leiter") anspielt, das jedoch aufgrund der vielen komplizierten Knoten im Kontext des Romans zur Chiffre für Verwirrung und Sinnlosigkeit wird.

Und doch ist der Autor gleichzeitig wiederum auf der Suche nach menschlichen Verhaltensnormen. Zwar greift er die Wissenschaft an und zieht auch den Sinn der Religion in Zweifel (vgl. seine Darstellung der auf Lügen gegründeten neuen Religionslehre des Bokononismus), aber dennoch lehnt er in Cat’s Cradle den Nihilismus ab und tritt in Slaughterhouse Five für den Pazifismus ein. Mit den Mitteln der Ironie und des schwarzen Humors, mit den therapeutischen Mitteln der Literatur, kämpft er gegen die Erosion der moralischen Normen und für eine menschlichere Welt, hat also letztlich ein humanes Anliegen.

Die einzige didaktisch-methodische Arbeit, die auf Cat’s Cradle eingeht, greift diesen Aspekt auf (Vgl. Multhaup/Winter in "Bibliographische Auflistung": "... to poison their minds with humanity ... to make a better world"). Auch wenn keine Schulausgabe des Textes vorliegt, dürfte der Roman in solchen Leistungskursen erfolgreich eingesetzt werden können, die sich für moderne Erzähltexte interessieren. Aufgrund des großen Diskussionspotenzials und der Komplexität der Themen Vonneguts sollte man ein solches Unterrichtsprojekt jedoch nicht vor der Jahrgangsstufe 12/2 zu realisieren versuchen.


Kurt Vonnegut, Slaughterhouse Five (1969)

Slaughterhouse Five ist ein besonderer Roman. Wie die Etikettierung "postmodern" bereits andeutet, handelt es sich nicht um einen konventionelles literarisches Werk, aber dennoch um einen Text, der für ein adäquates Verständnis konkrete Vorstellungen von der Beschaffenheit eines Romans voraussetzt. Vonneguts Erzählweise ist häufig als Collagetechnik beschrieben worden, mit deren Hilfe er völlig disparate Dinge zusammenschweißt. Dazu gehört die Auflösung der überkommenen Zeitstruktur ebenso wie die konsequente Fragmentarisierung der Geschehnisse.

Eine Schlüsselfunktion für das thematische und erzähltheoretische Verständnis des Romans kommt dem ersten Kapitel zu. Einerseits enthält es Informationen zur Genese des Werkes, Hinweise zu Schwierigkeiten seines Autors, über das Grauen des Krieges ein intelligentes Buch zu schreiben und suggeriert dem Leser somit eine ironische Selbstbewertung. Andererseits wird deutlich, dass der Roman aus dem Bewusstsein eines schizophrenen Protagonisten erzählt wird. Damit hängt zusammen, dass die konstitutiven Elemente eines traditionellen Romans hier fehlen.

In Slaughterhouse Five gibt es keine wirklichen Charaktere, keine zusammenhängende Handlung, also auch keine Steigerung, keinen Höhepunkt, keine Lösung, d.h. dass letztlich das Prinzip der Kausalität aufgegeben wird. Oder anders gesagt: die Gesetze der Logik werden durch die scheinbare Willkürlichkeit von Assoziationen ersetzt. Farben, Gerüche, Formen, Geräusche, Zahlen sind nur einige wenige Beispiele aus der schier endlosen Kette der assoziativen Bindeglieder. So ergibt sich anstelle einer chronologischen Ordnung eine zyklische Erzählweise mit sich ständig wiederholenden, zum Teil variierten Verweisen und Anspielungen, wobei Fakten und Fiktion sich kontinuierlich vermischen. Dieses scheinbare, in Wirklichkeit ungewöhnlich intensiv strukturierte Chaos spiegelt die Zustände unserer Welt wider, aber auch die - trotz allem - ernsthafte Intention des Autors.

Bei der Lektüre der restlichen Kapitel lassen sich mindestens drei thematische Ebenen unterscheiden. Zunächst einmal schildert der Roman die Bombardierung Dresdens in der Nacht vom 12. auf den 13. Februar 1945, die zahlreiche Todesopfer unter der Zivilbevölkerung fordert, die heutzutage auf etwa 30.000 geschätzt werden. Zu diesem Zeitpunkt war Vonnegut als Soldat in Dresden stationiert, und für ihn liegt die Ironie und die Sinnlosigkeit des Unternehmens darin, dass er als Amerikaner den Angriffen der eigenen Luftwaffe ausgesetzt war. Diese persönliche Erfahrung führte dazu, dass er von seinen Söhnen forderte, weder an der Herstellung von Massenvernichtungsmitteln teilzunehmen noch angesichts von unter den Feinden angerichteten Massakern Freude zu empfinden. Sein Anliegen liegt darin, mit den Mitteln der Ironie und des schwarzen Humors gegen jede Form von kriegerischer Auseinandersetzung zu protestieren, auch wenn er einen Anti-Kriegsroman letztlich für so wirkungslos hält wie ein Anti-Gletscher Buch.

Vonnegut überlebte in einem Schlachthof (vgl. Titel) die Bombennacht von Dresden und den Krieg ebenso wie sein profilarmer Protagonist Billy Pilgrim, der ironischerweise nahezu ohne eigenes Zutun ein erfolgreicher Geschäftsmann wird, hoch auf der sozialen Stufenleiter steht, aber durch die Kriegserfahrungen für immer traumatisiert ist. In seinem Bewusstsein gibt es zwischen dem Krieg und dem zivilen Leben der 50er und 60er Jahre keinen wirklichen Unterschied. Diese sind durch Rassenunruhen in vielen amerikanischen Städten, durch eine Serie von politischen Attentaten, unter deren Opfern sich John F. und Robert Kennedy ebenso wie Dr. Martin Luther King befinden, sowie ständige Gewalttätigkeit gekennzeichnet. Mit anderen Worten: das sog. zivile Leben ist wie der Krieg durch die Allgegenwart des Todes bestimmt.

Es ist psychologisch nur allzu verständlich, wenn sich Vonneguts Antiheld als Reaktion auf die permanente Konfrontation mit einer kaputten Realität in eine andere Welt flüchtet. Im Kontext des Romans bleibt es offen, ob Billy Pilgrims Zeitreisen zum Planeten Tralfamadore 'wirklich stattfinden' oder nur eingebildet sind. Fest steht indes, dass auch die utopische Gegenwelt nur scheinbares Glück anzubieten vermag. Auf jenem fernen Planeten wird der Gedanke an den Tod verdrängt, der freie Wille und damit die moralische Verantwortung geleugnet, und so etwas wie Respekt vor der menschlichen Würde ist ein Fremdwort. Statt dessen herrscht eine grundlegende Gleichgültigkeit, ein Fatalismus gegenüber allen Problemen, der die Existenz der Tralfamadorianer genau so sinnlos erscheinen lässt wie die der Erdbewohner.

Die Lektüre dieses ungewöhnlichen Romans mag für manche Leser anfangs schwierig sein. Die Erfahrung hat indes gezeigt, dass Vonneguts Aufsplitterung der Geschehnisse in extrem kleine Erzählschritte (einer rasanten Folge von Videoclips oder Werbespots vergleichbar) der Wahrnehmungsweise jugendlicher Leser mit ihren immer geringer werdenden Aufmerksamkeitsspannen besonders entgegenkommt: nicht umsonst hat Vonnegut bei der amerikanischen Studentenschaft begeisterte Anhänger gefunden. In thematischer Hinsicht ergeben sich eine Fülle von Anknüpfungspunkten: das Diskussionspotenzial des Romans ist schwerlich zu überschätzen. Seit einigen Jahren liegt auch eine sehr sorgfältig annotierte und kommentierte Schulausgabe des Romans vor (ursprünglich bei Bagel, jetzt von Cornelsen vertrieben). Somit dürften alle Voraussetzungen für eine überaus interessante und attraktive Romandiskussion vorliegen.

Bereits drei Jahre nach seiner Veröffentlichung erschien eine überaus ansprechende, weitgehend textgetreue Verfilmung des Werkes (Regie: George Roy Hill, 1972), die von der professionellen Kritik hoch gepriesen wurde. Auch Vonnegut selbst erklärte, dass der Film genau seinen Gefühlen bei der Abfassung des Buches entsprach. Doch das Publikum stimmte mit den Füßen ab: ein Kassenerfolg wurde die Verfilmung nicht.
Vgl. auch
Konkrete Arbeiten.


Julian Barnes, Flaubert's Parrot (1984)

Dass Flaubert's Parrot ein postmoderner Roman ist, wird bereits deutlich, wenn man versucht seinen Inhalt wiederzugeben: dieses Buch hat keine nacherzählbare Handlung, es ist eher eine Reihung von lose verknüpften Kapiteln, eine Collage der unterschiedlichsten Textsorten: es ist zum Teil wie ein Bericht, wie ein Kapitel aus der Sekundärliteratur, wie eine biographische Skizze, wie ein Auszug aus einem Wörterbuch, wie eine Liste von Examensaufgaben verfasst. Es ist ein Roman über die Problematik der Geschichte, ein Roman über das Interpretieren, über die Probleme, die historische Wahrheit herauszufinden (Metafiktion).

Der Titel erklärt sich folgendermaßen: In Flauberts Erzählung Un coeur simple besitzt die Protagonistin einen Papagei, und um diesen genau beschreiben zu können, hat sich der Autor einen ausgestopften Papagei aus dem Museum von Rouen geliehen. Der Ich-Erzähler des Romans ist wie ein Papagei, der bisher bekanntes Material über Flaubert und seine Bücher wiederholt, aber er analysiert auch dieses Material, zieht es in Zweifel, weist Einiges zurück und kommentiert es ironisch. Hinzu kommt, dass nicht feststeht, welches Exemplar eines Papageis auf Flauberts Schreibtisch stand, ob er tatsächlich dieses naturgetreu beschreiben wollte oder ob er die Farben abwandelte ... Für Barnes' Buch impliziert dies die Aussage, dass es sich einem festen Zugriff entzieht. Dieser für den Flaubert-Kenner kluge, anspruchsvolle und amüsante Roman ist für den Schüler der S II eine eindeutige Überforderung:

Der Umfang liegt bei 190 Seiten; da aber das Werk in tausend Details zerfällt, dürfte beim Lesen für den Schüler keine Spannung entstehen; eher dürfte die Lektüre außerordentlich mühselig sein. Auch die Sprache ist nicht leicht; der Wortschatz enthält viel spezifisches Fachvokabular; es ist nicht einfach, in der Fülle der Details die Übersicht zu bewahren. Es ist die Frage, was die Kohärenz des Romans ausmacht und ob diese überhaupt besteht. Ebenso wenig kann die erforderliche Kenntnis der wichtigsten Werke Flauberts bei den Schülern vorausgesetzt werden. Da keine Schulausgabe vorhanden ist, erfolgt keine Erklärung der zahlreichen Fakten und Anspielungen. Interessant wäre vielleicht der Einsatz dieses Textes im Rahmen eines fächerübergreifenden Projekts als Zusammenarbeit zwischen Anglisten und Romanisten.


Paul Auster, City of Glass (1987)

Heute ist Paul Auster eine feste Größe in der modernen amerikanischen Erzählliteratur. Mit dem im Jahre 1987 erschienenen Roman City of Glass, dem ersten Teil seiner New York Trilogie, gelang dem Autor der literarische Durchbruch. Dabei handelt es sich um ein ungewöhnlich komplexes Werk, bei dem keine noch so gute Zusammenfassung dem Text auch nur im entferntesten gerecht wird.

Im Mittelpunkt des Romans steht der fiktive Schriftsteller Daniel Quinn, der unter dem Pseudonym William Wilson Kriminalromane schreibt und der sich mit dessen Detektivfigur Max Work identifiziert. Durch einen technischen Fehler erhält Quinn einen Anruf, der angeblich für die Agentur Paul Auster bestimmt ist und der aus einem dringenden Hilfeersuchen besteht. Quinn wird von Virginia und Peter Stillman jun. um Schutz gegen seinen Vater gebeten. Peter Stillman sen., ein Professor mit ausgeprägtem Forschungsinteresse für die Entwicklung der menschlichen Sprache, hatte seinen Sohn neun Jahre lang in einem dunklen Raum isoliert: die sprachlichen und psychischen Spuren dieser Gefangenschaft sind bei Peter Stillman jun. deutlich feststellbar. Der Vater musste viele Jahre in einer psychiatrischen Anstalt verbringen, und zum Zeitpunkt seiner Entlassung, die mit dem Beginn der Romanhandlung zusammenfällt, fürchten Virginia und Paul einen Anschlag und bitten Quinn um seinen Schutz.

Quinn lässt als Paul Auster den älteren Stillman 13 Tage lang nicht aus den Augen, doch bleibt seine Observation ohne Ergebnisse. Stillman irrt regelmäßig ziel- und emotionslos durch die Stadt, ohne irgendwelche aggressive Neigungen gegenüber seinem Sohn zu zeigen. Schließlich erfährt Quinn aus der Zeitung, dass Peter Stillman sen. durch einen Sprung von der Brooklyn Bridge seinem Leben ein Ende gesetzt hat. Danach sind seine Mandanten nicht mehr auffindbar, ihre Telefonleitung ist tot und ihre Wohnung leer. Der Name Stillman schließlich erweist sich als falsch, so dass jeder Kontaktversuch zu ihnen unmöglich geworden ist und Quinns Einsatz ohne Bezahlung bleibt.

Während der fortgesetzten Observation seiner Mandanten verwahrlost Quinn nicht nur äußerlich, sondern er verliert auch die Verbindung zur Realität: seine Persönlichkeit macht einen Zerfallsprozess durch. Eines Tages ist der Einzelgänger Quinn spurlos verschwunden, und das einzige, das er zurücklässt, ist ein rotes Notizbuch, in dem er gewissenhaft alle Beobachtungen notiert hat. Aus diesen hat der Ich-Erzähler den vorliegenden Text geformt. Dessen Identität wird erst auf den letzten Seiten enthüllt: er ist ein Freund Paul Austers, der zwar nicht, wie von Quinn angenommen, ein Detektiv, sondern ein Dichter ist, der natürlich dennoch nicht mit dem Autor Auster identisch sein kann.

New York ist immer wieder als Schauplatz erfolgreicher Romane gewählt worden: die Palette der Beispiele reicht von Fitzgeralds Great Gatsby und Capotes Breakfast at Tiffanys über Salingers The Catcher in the Rye und Malamuds The Assistant bis hin zu McDonells eben erschienenen Drogenroman Twelve (vgl. dazu die Knapptexte auf dieser Homepage). Somit mag es zur Beliebtheit seines Werkes beigetragen haben, dass Paul Auster den Schauplatz New York so präzise beschreibt, dass man viele Passagen gleichsam topographisch einordnen kann. Dennoch strebt der Autor keine bloße Abbildung, keine rein mimetische Darstellung der empirischen Wirklichkeit an.

Diese Intention wird auch dadurch deutlich, dass sich der Autor der Elemente eines traditionellen Kriminalromans bedient. Ausgangspunkt des Geschehens ist ein in der Vergangenheit erfolgtes Verbrechen, welches die Grundlage für die verständliche Furcht bildet, es werde in der Gegenwart seine Fortsetzung finden. Da sich diese durchaus plausible Annahme indes nicht erfüllt, zeigt sich, dass der Autor mit dem Leser sein Spiel treibt: er weckt Erwartungen, die nicht eintreffen. Er gibt Rätsel auf, die Neugierde wecken und Spannung schaffen, deren Lösung jedoch der Leser nie erfährt. Er baut ein Knäuel unterschiedlichster Motive auf, das aus dem Text heraus nicht entwirrt werden kann. Die Handlung verläuft im Sande; es gibt schon deswegen keine Aufklärung oder Lösung, weil das vermutete Verbrechen nicht eintritt. Vielmehr impliziert die Übernahme des Auftrags für den falschen Detektiv das Ende seiner Existenz.

Vor allem die (ständig wechselnde) Identität der Figuren ist nicht fassbar. Der Schriftsteller Quinn schreibt seine Bücher unter einem Decknamen, identifiziert sich mit einer von ihm selbst geschaffenen Detektivgestalt und agiert in doppeltem Sinn unter falschem Namen, weil er weder mit dem fiktiven noch mit dem realen Paul Auster identisch ist. Zum Schluss verschwindet er ebenso aus dem Roman wie seine Mandanten: bezüglich Peter Stillman Jr. weiß der Leser lediglich um dessen sprachliche Defizite und psychische Deformation, während bezüglich seiner Frau nur festgestellt wird, dass es sich um seine ehemalige Sprachtherapeutin handelt. Der Autor bedient sich erfolgreich einer Strategie der Verrätselung bzw. der Verschleieerung des Erzählten.

Was für die Figuren gilt, gilt auch für die Identität des Romans insgesamt: seine Bedeutung liegt auf verschiedenen Ebenen. Diese Botschaft ist im Text selbst enthalten: der Roman ist nicht eindeutig, sondern vielschichtig und offen für viele Interpretationen. Auster bedient sich der beliebten Gattung Kriminalroman sowie Elementen traditionellen Erzählens, geht aber darüber wesentlich hinaus. Er schreibt ein meta-literarisches Werk, einen Text über das Schreiben und Interpretieren von Literatur. In ähnlicher Weise macht Kurt Vonnegut in Slaughterhouse Five Anleihen bei der beliebten Gattung Utopie, um sie für ganz andere Zwecke, nämlich für Kritik an der Gesellschaft und Protest gegen den Krieg, nutzbar zu machen. Beide Schriftsteller überwinden herkömmliche Formen, beide liefern Beispiele für experimentelle Literatur, die vom Einfallsreichtum und der Kreativität zeugen und die deswegen unter die postmodernen Romane eingeordnet wurden.

Auf den ersten Blick mag man mit dem Titel City of Glass Durchlässigkeit und Transparenz assoziieren. Doch in Wirklichkeit sind die glitzernden Fassaden der Wolkenkratzer Manhattans (vor allem im Sonnenlicht) oft nur schwer erkennbar, so dass der Titel wie Ironie anmutet. Für die Hauptfigur des Romans gilt jedenfalls: "Quinn was nowhere now: he had nothing, he knew nothing, he knew that he knew nothing" (p. 176). Für einen auf die Wirklichkeit ausgerichteten Detektiv ist diese an die Sokratische Ironie erinnernde Einsicht eher deprimierend. Und der Dichter Auster kommt an anderer Stelle zu dem Schluss: "And that’s finally all anyone wants of a book - to be amused" (p. 171). Vielleicht deckt sich diese Ansicht wenigstens mit der des realen Autors Paul Auster.

Seit 2001 liegt der Roman in Reclams Reihe Fremdsprachentexte vor (Hg. Herbert Geisen). Hervorzuheben sind vor allem seine sprachlichen und sachlichen Fußnoten sowie das ausgezeichnete Nachwort. Austers Text ist in vielerlei Hinsicht erklärungsbedürftig. Dazu gehören die Problematik der Isolierung von Kindern und die Folgen für deren kommunikative Kompetenz ebenso wie die Analyse eines fiktiven wissenschaftlichen Werkes des älteren Stillman zur Sprachentwicklung und die Diskussion zur Genese des Don Quichotte. Der Herausgeber liefert die für ein Verständnis erforderlichen Informationen und erleichtert die Lesbarkeit des Textes für alle, die sich auf Austers strategische Spiele einlassen und ihn mit Gewinn zu rezipieren vermögen.

Bei Faber and Faber (London) ist eine Gesamtausgabe der Trilogie erschienen, die auch die ebenfalls in New York angesiedelten Teile zwei und drei, Ghosts und The Locked Room, enthält. Zwar weisen beide Romane einige Parallelen zum ersten Teil auf, dennoch sind sie auf der Ebene der Handlung nicht direkt mit City of Glass verbunden. Die in diesem Roman offen gebliebenen Fragen werden auch jetzt nicht beantwortet: es ergeben sich keine direkten Verflechtungen. Dennoch stellt der Autor fest: "These three stories are finally the same story, but each one represents a stage in my awareness of what it is about" (London: Faber and Faber, 1987: 294).

Auffällig sind in allen drei Teilen die Gemeinsamkeiten zwischen einem Detektiv und einem Schriftsteller: sie beide beobachten die Wirklichkeit, sammeln Fakten, erkennen Verbindungen und ermitteln Identitäten. Der Schriftsteller ringt um die richtige Wortwahl, doch wichtiger als die Bedeutung der Worte ist die Auseinandersetzung selbst. Somit handelt es sich bei der Trilogie um die Darstellung eines Themas mit Variationen, von der jeder einzelne Teil als in sich abgeschlossene Einheit nachvollzogen und rezipiert werden kann. Für fremdsprachliche Unterrichtszwecke erscheint mir vor allem der von Geisen edierte erste Teil City of Glass geeignet.


Julian Barnes, A History of the World in 10 ½ Chapters (1989)

Die Verständnisprobleme bezüglich dieses Romans beginnen schon bei seinem Titel. Wie ist es möglich, wird sich der Leser fragen, in so wenigen Kapiteln eine komplette Weltgeschichte zu schreiben? Anstatt von Julian Barnes’ Roman Vollständigkeit zu erwarten, tut man gut daran, sich von vornherein auf eine stark selektive Vorgehensweise einzustellen. Der Autor liefert eine Mischung aus Fakten und Fiktion, eine Darstellung, die von ausgeprägten Zeitsprüngen und scheinbar ebenso willkürlichen Schauplatzwechseln geprägt ist, einen Roman ohne durchgehende Handlung, ohne feste Charaktere sowie ohne eine konstante Erzählperspektive. Dazu verwendet er einen Erzählstil, der sich dem jeweiligen zeitlichen und räumlichen Kontext anpasst. Für einen postmodernen Roman und für Julian Barnes ist diese Erzähltechnik freilich nicht ungewöhnlich.

Das erste Romankapitel bezieht sich auf die im Alten Testament geschilderte Sintflut, wobei allerdings die literarische Schilderung von der biblischen Vorlage erheblich abweicht. So wird etwa Noah, der aufgrund eines Bündnisses mit Gott die Arche gebaut hat, als ein mit vielen Schwächen behafteter Patriarch geschildert, der für das eigene Überleben nicht nur Tiere tötet, sondern auch alkoholabhängig ist. Allerdings wird die Erzählinstanz in diesem Kapitel nur schrittweise konkretisiert: erst mit dem Schlusssatz stellt sich heraus, dass die Geschichte aus der Perspektive von sieben beteiligten Holzwürmern verfasst ist.

Das zweite Kapitel lehnt sich an einen terroristischen Überfall im späten 20. Jahrhundert an, die Einnahme des Kreuzfahrtschiffes "Achille Lauro": im Jahre 1985 schockierten Fernsehbilder die Welt, als ein Rollstuhlfahrer brutal ins Meer gestürzt wurde und den Tod fand. In Barnes' Roman richten arabische Terroristen unter den Reisenden ein regelrechtes Blutbad an, indem sie nach Ablauf eines Ultimatums stündlich kaltblütig Geiseln erschießen. Als endlich ein Spezialkommando die Araber überwältigt, gibt es kaum Überlebende unter den Reisenden.

Im dritten Kapitel schließlich sind einige Holzwürmer angeklagt, den Stuhl eines mittelalterlichen Bischofs und das Dach einer Kirche so sehr angefressen zu haben, dass der kirchliche Würdenträger schwer verletzt wurde und das Kirchendach einstürzte. Der Fall wird in Form von Plädoyers der Anklage und der Verteidigung aufgerollt, wobei die Schuldfähigkeit der Tiere außer Zweifel steht. Sie werden schließlich verurteilt, anderswo Nahrung zu suchen.

Neben solchen völlig unterschiedlichen thematischen Akzenten gibt es weitere, die die Erzählform betreffen. In Kapitel 5 wird ein überdimensional großes Gemälde Teil des Texts, welches Schiffbrüchige in höchster Not auf einem Floß im Meer treibend zeigt und welches metaphorisch für das sinkende Staatsschiff steht. Kapitel 7 besteht aus drei voneinander unabhängigen Storys: die erste handelt von einem Passagier, welcher der Titanic-Katastrophe entkam, die zweite von einer modernen Version des biblischen Jonas, der von einem Wal verschlungen wurde und überlebte, und die dritte beschreibt die beispiellose Odyssee jüdischer Emigranten, die per Schiff aus Hitler-Deutschland zu entfliehen versuchen. Kapitel 9 schließlich setzt sich aus zwölf tagebuchartigen Liebesbriefen bzw. Telegrammen zusammen, die alle von demselben Verfasser an dieselbe Adressatin geschickt werden, ohne irgendeine Resonanz zu erzielen. Hinzu kommt, dass das im Titel genannte halbe Kapitel als Parenthese zwischen Kapitel 8 und 9 eingefügt ist, welches sich in quantitativer Hinsicht nicht vom übrigen Text unterscheidet und des Autors Liebesphilosophie sowie deren Verbindung zur Geschichte entwickelt.

Aus diesen Ausführungen wird deutlich, dass der Roman auch an Schüler der Oberstufe hohe Anforderungen stellt. Diese beginnen bei dem relativ großen Umfang von 370 Seiten (Picador-Ausgabe). Zudem weist fast jedes Kapitel ein eigenes Sprachprofil auf, wodurch immer wieder ein neues Einlesen erforderlich wird. Das eigentliche Verständnisproblem dürfte indes im Folgenden liegen: der Text besteht aus scheinbar völlig heterogenen Mosaiksteinchen, aus denen ein kohärentes Ganzes nur schwer auszumachen ist. Zwar fallen einige rekurrierende Motive ins Auge wie etwa der Umstand, dass neu gedeutete biblische Episoden, z.B. in Bezug auf die Arche Noah und den heiligen Berg Arafat, mehrfach im Text wiederkehren (vgl. Kapitel 1, 6 und 9) oder praktisch alle Erzählabschnitte eine maritime Katastrophe darstellen und aus diesen Literatur hervorgeht. Dennoch wird gerade jungen Lesern bewusst werden, dass vertraute literarische Begriffe und Interpretationskategorien angesichts der Experimentierfreude des Autors kaum weiter helfen. Auf der anderen Seite ist der Roman größtenteils anregend und amüsant sowie phasenweise (so etwa Kapitel 2) auch spannend zu lesen.

Bisher liegt meines Wissens weder eine didaktische Ausgabe noch ein Unterrichtsmodell zu Barnes' Werk vor. Im Jahre 2005 erschien allerdings der Beitrag eines Kollegen, der den Roman im Englischunterricht selbst praktisch erprobt hat. Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass dieser in Barnes' Darstellung der Weltgeschichte eine Alternative zu dystopischen Romanen sieht, die kurz vor dem Abitur gelesen werden sollte (vgl. Szczekalla, "Bibliographische Auflistung"). Trotz seiner positiven Erfahrung ist ein solch postmoderner Roman m.E. nicht jedes jungen Lesers Sache, so dass der Erfolg des Einsatzes sicher stärker als sonst vom Engagement der Lehrkraft abhängt.


Don DeLillo, Falling Man (2007)

In diesem Werk des bekannten amerikanischen Schriftstellers werden die Auswirkungen der Terroranschläge vom 11.9.2001 thematisiert. Vor allem aufgrund seiner unkonventionellen Erzählweise wird hier der Roman, der weder eine nacherzählbare Handlung noch eine fassbare Entwicklung von Geschehnissen enthält, als "postmodern" eingestuft. Der Autor konzentriert sich auf das Verhalten einer Gruppe von Menschen aus dem New Yorker Stadtteil Manhattan, die im Folgenden kurz vorgestellt werden sollen.

Da sind Keith und Lianne Neudecker und ihr einziger Sohn Justin. Keith arbeitet als Anwalt in einem der Zwillingstürme des World Trade Centers, und er gehört zu den wenigen glücklichen Menschen, die am Tage der Anschläge wenigstens körperlich unversehrt aus dem Welthandelszentrum entkommen. Er verlässt den Südturm und landet in einem von Schutt und Asche sowie von Ruß und Glassplittern dominierten Trümmerfeld.

Lianne ist Lektorin in einem Verlag, der auf die Publikation von Büchern zu alten Alphabeten spezialisiert ist. Die Eheleute hatten sich getrennt, aber nach einigen kurzen Untersuchungen in einer Klinik kehrt Keith Neudecker zu seiner Familie zurück, lebt wie in Trance und trägt einen Aktenkoffer mit sich herum, ohne den Grund dafür zu kennen. Eines Tages entschließt er sich, den Koffer zu öffnen und ihn seiner Besitzerin zurückzubringen. Dabei handelt es sich um eine gewisse Florence Givens, die am 11. September ebenfalls im Nordturm arbeitete, mit der er eine kurzlebige sexuelle Beziehung eingeht.

Lianne leitet zudem aus nicht ganz uneigennützigen Motiven therapeutische Sitzungen für Patienten mit einsetzender Alzheimer-Krankheit: die Mitglieder schreiben über die Anschläge und lesen anschließend in der Gruppe ihre Texte vor, um darüber zu sprechen. Nach DeLillo bedeutet Alzheimer den Verlust des Gedächtnisses, der Persönlichkeit und der Identität: somit spiegelt ihr Schicksal dasjenige aller Terroropfer.

Justin, seine Freundin Katie sowie ihr kleiner Bruder Robert (die "Siblings") beobachten bezeichnenderweise mit Ferngläsern den Himmel, da sie offenbar eine mögliche Wiederholung der Angriffe befürchten. Justin spricht, wie in seiner frühen Kindheit, nur in einzelnen Silben; die drohende Sprachlosigkeit zeigt seine Traumatisierung. Zwar entwickelt er mit seinen Freunden einen Code zur Verständigung, den die Erwachsenen jedoch nicht verstehen, und selbst seiner Mutter gegenüber verschließt er sich bezüglich aller Kommunikationsversuche: der Terror macht ihn lange Zeit geradezu mundtot. Die Überschrift des ersten Teils ("Bill Lawton") bezieht sich auf den Urheber der Anschläge und beruht auf einem akustischen Missverständnis der Kinder: offenbar ist Osama bin Laden, der Anführer von Al Kaida gemeint (cf. p. 48, p. 93).

Keith scheint den Bezug zur Realität zu verlieren: in seinen Beruf als Anwalt kehrt er nicht mehr zurück. Was vor den Anschlägen ein reines Vergnügen war, das wöchentliche Kartenspiel, scheint für ihn das Einzige zu sein, dem der Terror nichts anhaben konnte. Er wird nun zum professionellen Pokerspieler, der kreuz und quer durch die U.S.A. reist. Dabei geht es ihm nicht um materiellen Gewinn. Vielmehr ist das Spiel für ihn die einzige, noch bindende Kraft angesichts allgemeiner Paralyse und Hilflosigkeit. Der Roman endet, wie er begann: mit Keiths Wahrnehmung der terroristischen Angriffe an seinem ehemaligen Arbeitsplatz.

Neben diesen Hauptfiguren werden Nina, Liannes Mutter, und ihr Liebhaber Martin Ridnour genannt, der sich als Kunsthändler ausgibt und der die Rolle des Westens sehr kritisch einschätzt. Möglicherweise ist sein richtiger Name Ernst Hechinger (Überschrift von Teil II), der in den 70er und 80er Jahren Verbindungen zur Baader-Meinhof Gruppe unterhielt. Falls dies zutrifft, wäre er nach Liannes Überzeugung dann "einer von uns": "westlich, weiß und gottlos". Eine direkte Verbindung dieser Gruppe zu den Anschlägen des 11. September wird im Text nicht aufgezeigt.

Nach den Terrorangriffen wirken alle Menschen verunsichert, verstört sowie rat- und orientierungslos. Die menschliche Existenz wird von Furcht bestimmt, und die Überlebenden werden sich ihrer Verwundbarkeit bewusst. Nur kurz wird in DeLillos Werk die Perspektive der Terroristen beleuchtet. Der Autor gibt einige Hinweise auf die Hamburger Terrorzelle in der Marienstrasse, die an der Vorbereitung der Anschläge vom 11. September beteiligt war. An einer Stelle (p. 100) fällt der Name Mohamed Mohamed el-Amir el-Sayed Atta, einem der Haupträdelsführer, der eine Zeitlang in der Nähe des Ortes Nokomis in Südflorida Flugunterricht nahm und schließlich als Pilot eines der Flugzeuge in den Nordturm des World Trade Center steuerte. Die Terroristen glauben, dass in dem von ihnen geplanten Anschlag ihre eigene Bestimmung liegt. Ihre Todessehnsucht ist ihre Stärke: für sie zählt das Leben anderer Menschen nichts. Vielmehr ist Amerika der Feind, den es zu bekämpfen gilt. Aus ihrer Sicht ist die gemeinsame Selbstaufopferung, die Amerika zerstört, der beste vorstellbare Tod.

Insgesamt ist der Roman in drei Teile gegliedert. Der 3. Teil ist mit David Janiak überschrieben. Dies ist der Name eines obskuren Performance-Künstlers, der kurz nach den Anschlägen an verschiedenen Stellen in New York eine Situation in die Tat umsetzt, die ein Photograph am 11.9. mit seiner Kamera festhielt: das Bild zeigt einen Mann, der aus dem Nordturm des World Trade Center kopfüber in den Tod springt; darauf wird im Titel angespielt (p. 40). Die Ironie des Schicksals will es, dass dieser "Chronist des Terrors" bei einer seiner Vorführungen mit 39 Jahren selbst umkommt und dass sein Tod natürliche Ursachen hat (Herzschwäche und Bluthochdruck).

Diese letzte Sektion des Romans spielt drei Jahre später. Über Ninas Tod und Bestattung wird in einer Rückblende berichtet. Lianne nimmt mit ihrem inzwischen zehn Jahre alten Sohn Justin an einer Demonstration teil, die gegen Krieg, aber auch gegen den amerikanischen Präsidenten und die Politik überhaupt gerichtet ist. Dennoch fühlt sie sich im Grunde wie vor dem 11.9. mit Justin allein. Ihr Mann unterhält zwar sporadische Kontakte mit seiner Familie, doch ist er nicht an einem dauerhaften Zusammenleben interessiert und vertritt die Ansicht, dass die meisten Leben sinnlos sind. Der Terror bewirkt somit keine wirkliche Versöhnung von Keith und Lianne. Die im katholischen Glauben erzogene Lianne besucht wiederholt Gottesdienste, die ihr das Gefühl geben, mit den Toten verbunden zu sein, die ihr aber bei der Überwindung ihrer Zweifel an der Existenz Gottes nicht weiterhelfen. Die Opfer des Terrors versinken letztlich in Sprach- und Beziehungsunfähigkeit.

Natürlich ist das Thema "Terror" zur Zeit brandaktuell. Das zeigt sich auch darin, dass für DeLillos 2007 erschienenen Roman bereits ein Jahr später bei Cornelsen eine Schulausgabe zur Verfügung steht. Immer mehr aktuelle Texte kommen ohne die früher übliche Zeitverzögerung in die Schule: didaktische Ausgaben werden mittlerweile genauso schnell produziert wie Übersetzungen und Verfilmungen. Ob es sich bei Falling Man um eine glückliche Wahl handelt, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden: der Roman ist so chaotisch wie das von den Anschlägen verursachte Chaos. Somit besteht die Gefahr, dass der Unterricht über das Vermitteln fragmentarischer Aspekte nicht hinauskommt. Die Lehrkräfte, die für ihren Unterricht ein solches Werk strukturieren müssen, sind wahrlich nicht zu beneiden.

Hinzu kommt, dass meines Wissens bisher keine Lehrerhandreichung zur Verfügung steht. Vielleicht ist es die einfachste Möglichkeit, den Unterrichtsverlauf auf die verschiedenen Figuren hin auszurichten: Keith und Lianne Neudecker, Lianne und ihre Alzheimer-Patienten, Keith und die Pokerspieler, Justin und seine Freunde, Nina und ihr Liebhaber, die Vorstellungen der Terrorgruppe, etc. Ob Gespräche im Unterricht für den Umgang mit Terroranschlägen hilfreich und zugleich für die Schulung der Zielsprache sinnvoll sind, kann nur die Erfahrung zeigen. Für NRW gehört der Roman zu den verbindlichen Abiturtexten für die Jahre 2011-13.


Last Updated by Dr. Willi Real on Tuesday, 15 March, 2011 at 11:25 AM.

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