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Seit mehreren Jahrzehnten gehört Harper Lees To Kill a Mockingbird (KM) in den USA genauso wie bei uns zu den bewährten Romanen im Unterricht. Seit Juli 2015 liegt nunmehr als weiteres Werk der gleichen Autorin Go Set a Watchman (GSW) vor, das 20 Jahre später an gleicher fiktiver Stelle (Maycomb, Alabama) mit einer nur unwesentlich veränderten Figurenkonstellation angesiedelt ist und von daher zum Vergleich mit dem früher publizierten Text einlädt. GSW wird zunächst im Folgenden vorgestellt. Darüber hinaus werden einige Unterrichtsvorschläge zu diesem Roman unterbreitet.


Harper Lee, Go Set a Watchman (GSW)
als Zusatzmaterial im fortgeschrittenen Englischunterricht

Willi Real




Die Ausgangslage
Der folgende Fall, bei dem es um zwei zusammengehörige Romane der gleichen Verfasserin geht, dürfte in der amerikanischen Literaturgeschichte einmalig sein. Der eine spielt im Süden der USA in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, in der Zeit der wirtschaftlichen Rezession, in der in den Vereinigten Staaten, wie fast überall auf der Welt, große Armut herrschte. Der andere ist an gleicher Stelle in den 1950er Jahren angesiedelt, in denen eine intensive Auseinandersetzung um die Abschaffung der Segregation stattfand und zahlreiche rassistische sowie soziale Konflikte den Alltag beherrschten. Die Rede ist von Harper Lees To Kill a Mockingbird (KM) und Go Set a Watchman (GSW). Das erste Werk wurde bereits 1960 veröffentlicht, während das zweite erst mehr als 50 Jahre später, genau am 14. Juli 2015, das Licht der Welt erblickte. KM ist einer der wenigen Klassiker des 20. Jahrhunderts, der immer noch zum obligatorischen Lektürekanon an amerikanischen High Schools gehört. Sicher ist allerdings auch, dass GSW vom Tag der Ankündigung seiner Veröffentlichung an ein riesiger Verkaufserfolg wurde.(1) Und was besonders merkwürdig ist: Der Roman, der als Spätankömmling das Licht der Welt erblickte, ist in Wirklichkeit sein Vorläufer: GSW wurde nämlich vor KM verfasst. Wie konnte es dazu kommen?

Im Jahre 1957 hatte Harper Lee die Arbeit an ihrem ersten Roman beendet und das Manuskript ihrer Agentin Tay Hohoff vorgelegt, die für den Verlag JB Lippincott arbeitete. Diese fand, dass der Text zwar auf jeder Seite das literarische Talent seiner Verfasserin widerspiegelte, sah ihn aber für eine Veröffentlichung als noch nicht ausgereift an.(2) Ferner war sie der Auffassung, dass die zahlreichen Rückblenden in GSW die besten und reizvollsten Bestandteile bildeten und ermunterte zugleich die Autorin, sich ganz auf Jean Louises Kindheit zu konzentrieren.(3) Diese Ansicht bestätigte Harper Lee mit folgenden Worten: „My editor, who was taken by the flashbacks to Scout's childhood, persuaded me to write a novel from the point of view of the young Scout.“(4) Die junge, im Literaturbetrieb bis dahin noch gänzlich unerfahrene Harper Lee war selbstkritisch genug, diesem Rat zu folgen: „I was a first-time writer, so I did as I was told“.(5) So entstand in den nächsten Jahren der Roman KM, der schnell zu einem riesigen Erfolg wurde,(6) wozu nicht zuletzt auch die Verfilmung mit Gregory Peck in der Rolle des Anwalts Atticus einen wichtigen Beitrag lieferte.

GSW hingegen, in dem sich zahlreiche Unterschiede, wenn nicht sogar Widersprüche zu KM befinden, verschwand für mehrere Jahrzehnte im Familiensafe. Zu einer Zeit, in der die 89jährige, fast erblindete und taube Autorin gesundheitlich stark angeschlagen war, geriet der Text in die Hände neuer Verleger: die Verlagsgemeinschaft Harper/Collins veröffentlichte den Roman ohne Vorwort oder Einleitung zu seiner Genese oder zur Geschichte des Manuskripts. Man darf wohl unterstellen, dass sie die Beliebtheit Harper Lees gnadenlos ausnutzten, um ein gutes Geschäft zu machen.(7) Allerdings erfolgte die Veröffentlichung nicht gegen den Willen der Autorin:

„I hadn't realized it [the manuscript of GSW] had survived …
After much thought and hesitation I shared it with a handful of people I trust and was pleased to hear that they considered it worthy of publication. I am humbled and amazed that this will now be published after all these years.“(8)

Dennoch muss man davon ausgehen, dass die Rezeption von GSW mit zwei Handicaps zu kämpfen haben wird. Zunächst einmal wird KM seit mehr als einem halben Jahrhundert von Kritikern und Lesern gleichermaßen geschätzt. Eine derartige Einstellung trägt dazu bei, dass diese an ihren etablierten Überzeugungen festhalten und möglicherweise unerwartete, unerwünschte, verstörende oder gar schockierende Textaussagen blockieren und dagegen Immunisierungsstrategien entwickeln. Das Resultat könnte sein, dass KM als das bessere Buch eingestuft wird, ohne dass der früher verfasste, aber sehr viel später publizierte Roman GSW überhaupt eine angemessene Würdigung erfährt. Zweitens ist davon auszugehen, dass das Manuskript von GSW offenbar über all die Jahre unverändert blieb und möglicherweise deswegen immer noch den ursprünglichen Makel der Ablehnung durch den Verleger trägt. Dies ist eine Erklärung dafür, dass bei seiner späten Veröffentlichung sich eine ganze Heerschar von Rezensenten zu Wort meldete, um durchweg negative Werturteile zu dem Roman zu äußern. Dieser wurde zum Beispiel als eine „Kette von Klischees“, „als interessantes Dokument, aber ziemlich schlechter Roman“, als ein „langatmiger erster Entwurf“ bezeichnet.(9) Derartige Einschätzungen ändern indessen nichts an dem erstaunlichen Faktum, dass das Buch zu Anfang des 21. Jahrhunderts durchaus noch aktuell ist. Bevor plakative Etikettierungen und pauschale Verurteilungen erfolgen, sollte man sich daher zunächst einmal auf den Text konzentrieren und diesen mit KM vergleichen.


Konstellation der Charaktere
Die Unterschiede zwischen den beiden Romanen werden auf vielfache Weise deutlich. Zunächst einmal bewirkt die zeitliche Distanz von rund 20 Jahren einige Änderungen in der Konstellation der Charaktere. In KM sind Atticus Finch, seine schwarze Köchin Calpurnia, seine Kinder Jem, Jean Louise ("Scout") und ihr Cousin Dill die Hauptpersonen, wobei die Kinder während der Sommerferien ein unzertrennliches Trio bilden. In GSW kann infolge ihres Alters Calpurnia nicht länger ihren Dienst verrichten, so dass Atticus' Schwester Alexandra den Haushalt führt. Jem ist wie seine Mutter an Herzschwäche gestorben, während Dill im zweiten Weltkrieg in Frankreich gefallen ist, so dass aus dem kindlichen Trio nur die inzwischen 26jährige Jean Louise überlebt hat. Anstelle ihrer früheren Altersgenossen erhält nun Henry ("Hank“) Clinton, der wie die Kinder des Atticus in Maycomb groß geworden ist, in GSW eine tragende Rolle.

Die erwachsene Jean Louise steht indes im Zentrum des Geschehens. Ihre literarische Darstellung ist teilweise an autobiographische Details angelehnt. Wie die kürzlich verstorbene Autorin Harper Lee selbst,(10) arbeitet die Protagonistin in New York und verdient eigenständig ihren Lebensunterhalt, wie es dem Wunsch ihres Vaters entspricht.(11) Der mittlerweile 72jährige Atticus lebt noch immer in Maycomb, Alabama und wird von schwerer Arthritis geplagt. Er ist nach wie vor als Anwalt tätig: er arbeitet beruflich mit Henry Clinton zusammen, der außerhalb der Sommerferien Scouts langjähriger Freund war.


Zusammenfassung der Handlung
Im ersten Kapitel von GSW wird beschrieben, wie Jean Louise mit der Eisenbahn von New York nach Maycomb fährt, um vierzehn Tage Urlaub in ihrer Heimat zu verbringen. Dort wird sie von Hank Clinton am Bahnhof abgeholt. Atticus spricht seine Tochter wie früher mit ihrem Kosenamen „Scout“ an, als habe sich zwischen ihnen nichts verändert. Sein um zehn Jahre jüngerer Bruder, der Arzt Dr. Jack Hale Finch, gewinnt im Laufe von GSW erheblich an Bedeutung: er wird zu Jean Louises Mentor.(12))

Diese muss feststellen, dass in Maycomb Vieles nicht mehr wie früher ist. Nach der Wirtschaftskrise in den 1930ern hat sich das Äußere der Ortschaft zum Positiven verändert (statt ärmlicher Hütten gibt es in den 1950er Jahren immerhin halbwegs anständige Unterkünfte), man hört von der Bürgerrechtsbewegung, von der National Association for the Advancement of Coloured People (NAACP), den ihr gewidmeten Zeitungsberichten, und vom örtlichen Widerstand dagegen. Alexandra beispielsweise übernimmt die Denk- und Verhaltensmuster vieler Bewohner von Maycomb,(13) und infolgedessen wendet sie sich gegen eine mögliche feste Verbindung zwischen Henry Clinton und Jean Louise, weil die Familie der Clintons derjenigen der Finchs sozial weit unterlegen sei (p. 36f). Somit ändert sich nicht nur das Miteinander in Jean Louises Elternhaus, sondern offenbar bestehen auch die alten Vorurteile weiter fort.

Mit Henry besucht sie ihren früheren Wohnsitz Finch Landing, wo jetzt ein Jagdclub residiert und deswegen das dazu gehörige Haus gut erhalten ist. Sie schwimmen im Fluss, sprechen über eine mögliche gemeinsame Zukunft. Er versucht, sie damit zu beeindrucken, dass er in der Nachfolge ihres Vaters Atticus selbständig als Anwalt tätig sein möchte, selbst wenn er öffentlichen Widerstand überwinden müsse(14) und die Verhältnisse schwieriger geworden sind. Die Afro-Amerikaner stehen inzwischen besser da: sie können sich Gebrauchtwagen leisten, in denen sie mit hoher Geschwindigkeit durch die Gegend fahren. Damit wird angedeutet, dass sie genau wie beim Wahlverhalten Solidarität zeigen (vgl. unten), um ihre bisherige Unterdrückung zu überwinden. Jean Louise sieht, wie ihre alte Welt, in der sie eigentlich fest verwurzelt ist, sich ändert, aber sie fühlt sich auch zu New York hingezogen, und daher fragt sie sich, wo sich ihr Zuhause befindet.

In Maycomb regieren immer noch die Gesetze einer Kleinstadt: am Sonntagmorgen wird das Gerücht verbreitet, dass Henry und Jean Louise nackt im Fluss geschwommen seien. Und damit wird der Ruf der Familien geschädigt. Beim methodistischen Gottesdienst bezieht sich die Predigt auf eine Stelle aus Isaiah, Kap. 21:6: "Go, set a watchman" (p. 95): sie entspricht damit genau dem Titel des Romans, auf den später im Text nochmals angespielt wird (p. 181f). Das Zitat aus dem Alten Testament steht an dieser Stelle zunächst einmal nicht in einem politischen oder gar rassistischen Zusammenhang.

Nach dem Gottesdienst findet Jean Louise im Hause ihres Vaters ein politisches Pamphlet mit dem Titel "The Black Plague" (p. 101), dessen Inhalt zwar nur angedeutet, aber dessen Wirkung auf Scout um so genauer beschrieben wird. Nach ihrer Auffassung ist die Darstellung des Verfassers so polemisch, dass er Hitlers Propagandaminister Goebbels zu einem naiven Jungen vom Lande degradieren würde (p. 102). Natürlich ist sie entsetzt darüber, ein solches Heft im Hause ihres Vaters zu finden. Am Sonntagnachmittag aber kommt es für sie noch schlimmer, als sie Zeugin einer Beratung der politischen Situation in Maycomb wird: dazu versammelt sich die Mehrheit aller respektablen Männer im Gerichtsgebäude. Ihnen allen geht es um die Verteidigung des Status quo, d.h. um die Bewahrung der Segregation. Und Atticus nimmt nicht nur an der Versammlung teil, sondern er leitet auch die Sitzung und stellt einen Redner namens Grady O'Hanlon vor (p. 107), der die Erhaltung der Segregation zu seiner beruflichen Hauptaufgabe gemacht hat (p. 108).

Dessen Rede enthält eine breite Palette traditioneller Vorurteile: die Schwarzamerikaner seien den Weißen wesentlich unterlegen, niedriger als Küchenschaben, sollten besser auf Bäumen leben, wollten weiße Frauen heiraten, um die weiße Rasse zu Bastarden zu machen ("mongrelize the race", p. 108). Dazu wisse niemand, warum Gott die Rassen geschaffen habe, aber deren Trennung sei sicher von ihm gewollt (ebd.). Solche Aussagen mögen beim Publikum von Maycomb gut ankommen, aber sie erschüttern Jean Louise und sind für sie Grund genug, sich von ihrem Vater getäuscht und verraten zu fühlen. Sie erinnert sich daran, wie sie als Kind in KM an gleicher Stelle, nämlich von der Galerie des Gerichtsgebäudes, heimlich ihrem Vater zugehört hat, als er leidenschaftlich den vermeintlichen schwarzen Vergewaltiger Tom Robinson verteidigte. Es ist aufschlussreich für sie, dass (im Gegensatz zu den Geschehnissen in KM) in ihrer Erinnerung ihr Vater vor Gericht erfolgreich war (p. 109).

Es folgt ein Rückblick aus Jean Louises Perspektive. Sie ist nach dem Tode ihrer Mutter unter der Obhut von Atticus wie ein Junge aufgewachsen: er hat sie durch die Vermittlung seiner Werte geprägt (p. 117f), und die schwarze Köchin Calpurnia hat ihr jahrelang die verstorbene Mutter ersetzt. Mit ihrem Übergang vom Wildfang zu einer jungen Frau setzen ihre Schwierigkeiten ein. In der Schule ist sie von einer Mitschülerin unvollständig bzw. falsch aufgeklärt worden, so dass sie sich nach einem ihr aufgezwungenen Zungenkuss ("French kiss“; vgl. cf. pp. 128-130) für schwanger hält. Dadurch gerät sie so sehr in Angst, Panik und Depression, dass sie im Alter von zwölf Jahren ihrem Leben ein Ende setzen möchte (p. 133f). Ihr Freund Hank rettet sie in letzter Minute, sie spricht sich endlich bei Calpurnia aus, und erst dann fällt ihr eine monatelange schwere Last von den Schultern (pp. 137-139).

In der Erzählgegenwart erhält Atticus die Nachricht, dass Calpurnias Enkel Frank in betrunkenem Zustand einen alten Mann überfahren hat. Atticus ist bereit, den Fall zu übernehmen – aber nicht aus Dankbarkeit seiner ehemaligen Köchin gegenüber, wie Jean Louise glaubt. Mit Befremden nimmt sie zur Kenntnis, dass für ihren Vater bei seiner Entscheidung ganz andere Gründe eine Rolle spielen. Er weist beispielsweise darauf hin, dass solche Fälle für farbige Anwälte der NAACP ein gefundenes Fressen darstellen, die diese mit allen möglichen Tricks auf die Bundesebene ziehen, um die Chancen ihrer Mandanten zu verbessern (p. 149). Als Jean Louise ihren Vater mit dem Auto in die Stadt fährt, fühlt sie eine wachsende Distanz zu ihm (p. 154), und sie fürchtet sich offenbar vor einer klärenden Aussprache.

Danach besucht sie Calpurnia und bietet ihre Unterstützung an (p. 156). Diese rechnet damit, dass ihr Lieblingsenkel Frank, der sich am Tuskegee Institute beworben hatte (p. 157), nicht ohne eine Gefängnisstrafe davonkommen wird, ob mit oder ohne Atticus' Hilfe ist ihr gleichgültig (p. 159). Jean Louise hat daher das Gefühl, dass sie nicht mehr als Vertrauensperson akzeptiert wird. Sie fühlt sich nur noch als eine Weiße, nicht mehr als eine Tochter, die nach dem Tode ihrer Mutter von Calpurnia großgezogen wurde. Nach der Vertrauenskrise mit ihrem Vater hat sie nun erst recht das Gefühl, dass innerhalb von zwei Tagen ihre gesamte Welt zusammenbricht (p. 161).

Alexandra bestärkt sie in dieser Überzeugung. Die Schwarzen sind ihrer Einschätzung nach undankbar und aufsässig, so dass man sie an ihrem Platz halten müsse ("keep them in their places"; p. 150; vgl. p. 166f). Jean Louise meint, zu den Frauen von Maycomb keinen Kontakt mehr finden zu können: sie sieht sich nicht als „Mitglied dieser Hochzeit.“(15) Die Frauen haben offenbar Angst vor einer weiteren Rebellion der Schwarzamerikaner (p. 173),(16) vor einem gewaltsamen Umsturz und stempeln alle Andersdenkende als Kommunisten ab. Der NAACP wird unterstellt, sie wolle durch Vermischung der Rassen die Unterschiede zwischen Schwarz und Weiß beseitigen (p. 176f). Jean Louise hat für derartige Ängste absolut kein Verständnis, weil sie von einer schwarzen Frau und einem weißen Mann aufgezogen wurde. Insofern kennt sie keine Rassenschranken, ist somit farbenblind (p. 122; vgl. p. 270): in dieser Hinsicht hat sie tatsächlich nie ihre Augen geöffnet.

Anschließend besucht Jean Louise ihren Onkel, den Arzt Dr. Jack Hale Finch, um mit ihm über die Wandlung ihres Vaters zu sprechen. Als sie Atticus als "nigger hater" (p. 188) bezeichnet, wird sie von ihm zurechtgewiesen: ihr Vater sei nicht für die gänzliche Unterdrückung des Fortschritts und ebenso wenig dafür, dass die Schwarzen unverändert an ihrem Platz gehalten würden (p. 189).(17) Nach Jacks Einschätzung befindet sich der Süden im Umbruch: nach dem Bürgerkrieg wurde nicht nur die Sklaverei abgeschafft, sondern es ergaben sich im 20. Jahrhundert viele soziale und wirtschaftliche Veränderungen, da die Landwirtschaft immer mehr an Bedeutung verlor. Dabei hat Jean Louise das Gefühl, dass ihr Onkel zu abstrakt und zu vage redet und bei dem Bestreben, historische Lektionen zu vermitteln, ihr permanent ausweicht. Auf diese Weise liefert Jack Finch keine Antworten auf die drängenden Fragen seiner Nichte: das Gespräch mit ihm bringt Jean Louise nicht weiter. In diesem Kapitel hat der Leser eher das Gefühl, dass die Handlung auseinanderdriftet.

Es folgt eine weitere Rückblende, die beschreibt, wie Jean Louise zum ersten Mal öffentlich in Maycomb zum Tanzen geht (Kap. 16, pp. 226ff). Gleichsam nebenbei wird noch einmal der Satz erwähnt, der Atticus' Tätigkeit als Anwalt definiert, aber auch an seinen erzieherischen Grundsatz erinnert: "put himself in his clients' shoes" (p. 224).(18) In ihrer Kindheit sah sie sich als Teil der Gesellschaft, inzwischen fühlt sie sich wie ein ewiger Außenseiter. Sie bekommt Streit mit Henry, der ebenfalls Teilnehmer an der Bürgerversammlung war, und wirft ihm vor, von Atticus abhängig zu sein. Henry verteidigt Atticus' Verhalten damit, dass er auf einer solchen Versammlung seine Feinde kennen lernen will. Deshalb habe er sogar einmal (nicht regelmäßig!) ein Treffen des Ku-Klux-Klan besucht (p. 229). Und er verweist darauf, dass er selbst zur niederen Schicht der armen Weißen gehöre, während die Finchs in ihrer sozialen Stellung und in ihren Rechten privilegiert seien (p. 230f). Sie akzeptiert diese Argumente nicht, sondern nennt ihn einen Heuchler und sagt sich von ihm los (p. 234).

In dem nun folgenden Kapitel 17 kommt es endlich zur lange erwarteten Aussprache zwischen Atticus und seiner Tochter. Diese weist darauf hin, dass für sie immer ein Erziehungsprinzip gegolten habe: "Equal rights for all, special privileges for none" (p. 242).(19) Dieser Grundsatz gilt jetzt nicht mehr ausnahmslos. Atticus vertritt demgegenüber zum Beispiel die Meinung, dass das Wahlrecht ein Privileg sei, dass nur solchen Bürgern vorbehalten sei, die sich darum verdient gemacht hätten (p. 244). Darüber hinaus seien die Schwarzen im Süden in der Mehrheit und nicht imstande, Verantwortung zu übernehmen und die regionalen Geschicke zu lenken (p. 246). Insofern ist es für ihn nicht akzeptabel, dass die NAACP für das Wahlrecht jedes einzelnen Schwarzamerikaners in der Überzeugung kämpft, dass der Weg zur Freiheit für diese nur über das Wahlrecht führt. Nach Atticus würde es zur Zeit im Süden nur zu Chaos führen. Der Bürgerrat fungiert für ihn folglich als das einzige Gremium, das die weiße Gesellschaft verteidigen kann (p. 250).

Diesen Standpunkt vermag Jean Louise nicht nachzuvollziehen. Sie wirft ihrem Vater vor, ein Feigling, ein Snob und ein Tyrann zu sein (p. 247). Sie zählt eine Reihe von Klischeevorstellungen bezüglich der Schwarzamerikaner auf, dass beispielsweise diese als rückständig, ungebildet, schmutzig, dumm, etc. gelten, aber sie besteht trotzdem darauf, dass sie völlig menschlich "human"; p. 251) seien. Sie vergleicht ihren einst so hoch verehrten (gottgleichen) Vater Atticus mit Adolf Hitler, der zwar keine Menschen, wohl aber deren Seelen töte (p. 251f).(20) Sie nennt ihren Vater wegen seiner doppelten Maßstäbe einen Betrüger, von dem sie sich lossagt. Dieser verteidigt sich nicht, beteuert aber nach wie vor seine Liebe zu ihr (p. 253). Selbst diese Äußerung akzeptiert sie nicht, stattdessen will sie sich ganz schnell möglichst weit weg von Maycomb entfernen und nie wieder dorthin zurückkehren (Ende des 17. Kapitels, p. 253; vgl. auch p. 258).

Doch bevor das geschieht, kommt es zu einem weiteren Gespräch zwischen Jean Louise und ihrem Onkel Dr. Jack Finch. Dieser wurde bereits telefonisch von ihrer leidenschaftlichen Anklage ihres Vaters informiert (p. 263) und betont, dass Atticus und er ihre Schwierigkeiten vorausgesehen hätten (p. 265). Ihnen sei bewusst, dass Jean Louise ihren Vater nie als einen Menschen gesehen, sondern ihn mit Gott verwechselt habe, (p. 265), so dass die enge Tochter-Vater-Bindung zum Hemmschuh für ihre eigene Entwicklung wurde. Sie habe sich zu stark an ihn angelehnt und sich deswegen zu einem „emotionalen Krüppel“ entwickelt (p. 265). Hinzu komme, dass die Insel eines jeden Menschen, der Wächter im metaphorischen Sinn, sein eigenes Gewissen sei (p. 264f). Und sie müsse einsehen, dass das Gesetz für Atticus noch immer als Maßstabs seines Handelns diene und dass er Gewalt von Seiten des Ku-Klux-Klan stets aktiv bekämpfen würde (p. 268). Und dann folgt abschließend ein weit hergeholtes Argument, das die gesamte Überzeugungsarbeit von Jack Finch als eine wahre tour de force erscheinen lässt: er gesteht Jean Louise, dass er einst ihre Mutter geliebt habe und dass er sie und ihren toten Bruder Jeff wie eigene Kinder liebe (p. 274). Daraufhin beruhigt sie sich wieder.

Überraschend schnell begibt Jean Louise sich danach auf die Ebene der Argumente ihres Mentors. Sie erkennt, dass Atticus keine andere Wahl hatte, als sie in ihrer kindlichen Welt zu schützen. Sie entschuldigt sich bei ihrem Vater, der nach wie vor stolz auf seine Tochter ist (p. 277) und ihr nochmals versichert, dass er sie sehr liebt (p. 278). Sie nimmt auch den Kontakt zu Henry wieder auf (p. 276), so dass der Roman doch noch zu einem versöhnlichen Abschluss kommt. So gesehen, durchläuft Jean Louise auf dem Weg zu einem selbständigen Leben 'nur' ein besonders kritisches Stadium der Desillusionierung. Die Probleme der Kastengesellschaft von Maycomb bleiben außen vor.


Kritische Stellungnahme
Die Handlung von GSW besteht aus zwei unterschiedlichen Strängen. Der erste beschreibt Jean Louises Ferienerfahrungen in Maycomb, von der Wahrnehmung der ersten Veränderungen über ihre wachsenden Zweifel bis hin zu einer veritablen Lebens- bzw. Identitätskrise (p. 225). Diese gipfelt in der Auseinandersetzung mit ihrem Vater und Erzieher Atticus und stellt zweifellos den Höhepunkt des Werkes dar. Die chronologische Darstellung dieses Handlungsstranges wird durch eine Reihe von Rückblenden unterbrochen. Dazu zählen beispielsweise die mit ihrem Bruder Jem und ihrem Cousin Dill gemeinsam inszenierten Rollenspiele, (Kap. 5, pp. 55ff), ihre bereits erwähnte mangelnde 'Aufgeklärtheit' und die daraus resultierende persönlichen Krise (Kap. 11, pp. 130-138) sowie Scouts erstes Tanzen in der Öffentlichkeit und der damit verbundene schulische 'Skandal' um ihren künstlichen Busen (Kap. 15, pp. 206ff). Die erste Rückblende bezieht sich auf eine zeitgleiche Parallelhandlung zu KM, in der zweiten und dritten Episode ist Jean Louise 12 bzw. 14 Jahre alt. Das heißt, dass diese Passagen über die in KM geschilderten Ereignisse hinausgehen und dieselben ergänzen.

Für die Lektüre des Romans ist entscheidend, dass die beiden Ebenen eng ineinander verwoben sind, so dass die Schilderungen der Eindrücke und Erfahrungen Jean Louises sowie ihre wachsende Verunsicherung immer wieder unterbrochen werden. So attraktiv und humorvoll die eingeschobenen Rückblenden in sich auch sein mögen, so sind sie doch alle Abschweifungen von der Thematik, die eine künstliche Spannung erzeugen und die Geduld des Lesers immer wieder auf eine harte Probe stellen. Der Roman weist somit eine episodische Struktur auf: es fehlt ihm an Geschlossenheit oder Kohärenz.

Die Schilderung der Wandlung Jean Louises bildet die Haupthandlung von GSW. In zahlreichen Dialogen setzt sie sich mit einzelnen Bewohnern von Maycomb, ihrem Freund Hank, ihrer 'gefühlten' Mutter Calpurnia, ihrer Tante Alexandra, ihrem Onkel Jack sowie ihrem Vater Atticus auseinander. In diesen Textpassagen steckt viel didaktisches Potenzial. Vor allem die Auseinandersetzung zwischen Atticus und seiner Tochter, aber auch das Gespräch zwischen Jean Louise und ihrem Onkel Jack bieten zu intensiven Diskussionen Anlass.

Weder die Argumentation des Onkels noch die des Vaters ist gänzlich nachvollziehbar. Zwar praktiziert Atticus nach wie vor als Anwalt, aber die Behauptung, dass das Gesetz immer noch Maßstab seines Handelns sei (p. 268), gilt in GSW nicht uneingeschränkt. Mit Berufung auf Thomas Jefferson gesteht Atticus das Wahlrecht nicht allen, sondern nur verdienten Bürgern zu: "Jefferson believed full citizenship was a privilege to be earned by each man ... A vote was, to Jefferson, a precious privilege a man attained for himself" (p. 244). Diese Aussage steht in schroffem Kontrast zu KM. Dort argumentiert er im Falle des schwarzen 'Vergewaltigers', dass vor dem Gesetz alle Menschen gleich sind (p. 226), was impliziert, dass niemand Sonderrechte genießen dürfe. In GSW weicht er seine moralische Überzeugung an einem entscheidenden Punkte auf: er unterstützt die Anhänger der Segregation, die eine eklatante Verletzung der Gleichberechtigung und zugleich ein Festhalten an Ausgrenzung und Diskriminierung darstellt. Im Jahre 1954 erklärte der Oberste Gerichtshof der USA das System der Segregation in den Schulen für ungesetzlich (Brown vs. Board of Education). Somit stellt sich Atticus in diesem Zusammenhang gegen ein von der höchsten richterlichen Instanz der Nation erlassenes Gesetz. Für ihn ist dessen Entscheidung ein realitätsfremdes Beispiel für juristische Gängelung oder Bevormundung. Er unterstellt, die Schwarzen würden geschlossen ("in blocs"; p. 243) wählen, um ihre Kandidaten durchzubringen, und dementsprechend fürchtet er eine Majorisierung durch eine angeblich unfähige Mehrheit. Ob diese Vision eines Schreckensbildes gerechtfertigt ist, steht auf einem anderen Blatt.

Nach 1954 setzte bald eine intensive Auseinandersetzung um die Segregation ein: sie wird in Universitäten, Kinos, Restaurants, ja im gesamten öffentlichen Leben in Frage gestellt, und gerade diese sozial unruhige Zeit wird in den fiktiven Ereignissen von GSW abgebildet. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass ein Rassist wie O'Hanlon sich nicht dem Urteil des Obersten Gerichtshofs beugen will, was ihn als schlechten Demokraten ausweist. Mit dem Eintreten für diese gesellschaftliche Realität entsteht aber auch ein Bruch in der Figur des Atticus. Zum einen ist er nicht mehr der bedingungslose Anwalt der Schwarzen: er ist nicht mehr der aus der Menge der Bürger herausragende Einzelkämpfer für Recht und Gerechtigkeit, sondern er agiert nur noch wie ein ein normales und akzeptiertes Mitglied der weißen Gesellschaft in Maycomb, das sich deren Überzeugungen angepasst hat. Dabei handelt es sich weder nur um eine kleine Schwäche, wie man man sie jedem Erzieher zugestehen sollte, noch um eine stärkere Differenzierung seiner Figur, sondern um einen substantiellen Widerspruch: es geht um die Aufgabe eines wesentlichen Grundsatzes für Leben und Erziehung, mit dem für Jean Louise ein erheblicher Vertrauensverlust verbunden ist. Faktisch wird Atticus, der durch die Darstellung in KM zu einem Muster an Tugend und zu einer Ikone für Millionen von amerikanischen Lesern wurde, als moralische Leitfigur demontiert.

Dazu passt auch die Erkenntnis, dass seine Rechtfertigung von seinem jüngeren Bruder Dr. Jack Finch übernommen wird. Dieser versucht Jean Louise auf die Bedeutung der eigenen Gewissensentscheidung aufmerksam zu machen, wobei erneut ein Bezug zum Titel des Romans GSW hergestellt wird. Auch wenn Dr. Finch die im Titel verwendete Form des Imperativs vermeidet, landet er einen moralischen Appell an Jean Louise, ihrem Gewissen zu folgen:
"Everyman's island, Jean Louise, everymans's watchman, is his conscience" (pp. 264-65).
In KM geht es hingegen für die Kinder wiederholt darum, sich für eigene Entscheidungsfindungen in die Haut anderer Personen hineinzuversetzen:
"You children last night made Walter Cunningham stand in my shoes for a minute" (p. 173).
"Jem, see if you can stand in Bob Ewell's shoes a minute" (p. 241).
Mit dieser Forderung nach Empathie liegt eine altruistisch orientierte Ethik vor, welche die gesamte Erziehung Jean Louises bestimmt. In diese Richtung zielt auch der Titel von KM: Die Spottdrossel ist ein harmloser, unschuldiger Vogel, der auf den Gesang anderer Artgenossen hört und diesen nachahmt. Und deswegen bringt Atticus seinen Kindern bei, dass es eine Sünde sei, eine Spottdrossel zu töten (p. 99). Insofern ist auch die Verurteilung Tom Robinsons ungerecht, der mit einem solchen Lebewesen in Verbindung gebracht, ja auf eine Stufe gestellt wird (p. 232 und p. 265). Die gleiche Perspektive legt Atticus in GSW auch seiner beruflichen Tätigkeit als Anwalt zugrunde (p. 224).

Als ethisches Prinzip hat es indes in diesem Roman ausgedient: es wird durch den subjektiven Kompass des Gewissens, durch den Rückgriff auf eine eigene moralische Instanz abgelöst. Man mag darüber streiten, welche der beiden Konzeptionen die originellere und/oder die attraktivere ist. Im Idealfall würden sich beide Ansätze sicher in positiver Weise ergänzen. Wahrscheinlich zeigt sich hier dennoch am deutlichsten der unterschiedliche Kern der beiden Romane: nicht der andere Mensch steht im Zentrum des moralischen Handelns, sondern die eigene Persönlichkeit, und damit nimmt die Autorin eine deutliche Akzent- und Wertverlagerung vor. In KM geht es um eine Auseinandersetzung mit Vorurteilen, um den Umgang mit Außenseitern und Minderheiten, also um einen erzieherischen Roman mit einer sozialen Ausrichtung. Mit GSW will die Autorin demgegenüber eine persönliche Botschaft vermitteln: der Text handelt von den wachsenden Zweifeln bei der eigenen Standort- und Identitätsfindung und ist somit als Initiations- oder Adoleszenzroman einzuordnen.

Damit gehen die Probleme weiter: der Versuch, den Zusammenbruch der Weltsicht der immerhin 26jährigen Jean Louise mit den Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens zu erklären, kann nicht überzeugen. Es wäre sicherlich konsequenter gewesen, wenn die Tochter nach ihrer massiven Kritik den Bruch mit ihrem Vater endgültig, d.h. dauerhaft, vollzogen hätte. Der Vergleich des in ihrer Kindheit gottgleichen Atticus mit Hitler als der Verkörperung des Bösen schlechthin ist extremer kaum vorstellbar, er mag theatralisch klingen, überzogen und abwegig sein. Jean Louises Vorwurf hingegen, dass er den Schwarzamerikanern die Hoffnung nähme (p. 251), scheint zumindest im Ansatz gerechtfertigt. Atticus ist für diese sicherlich weder ein Vorbild noch ein Hoffnungsträger: Er handelt wie ein normaler Bürger, wie jemand, der im Gegensatz zu KM keinen Denkmalstatus besitzt. Dieses Verhaltensmuster hat Jean Louise richtig erkannt, und an dieser Erkenntnis sollte sie festhalten. Ihre allmähliche Abkehr von ihrem Vater ist durchaus glaubwürdig, nicht aber ihr unvermitteltes Einknicken und ihre Bitte um Verzeihung. Diese Kehrtwende wirkt so, als habe die Autorin Angst vor der eigenen Courage bekommen und deswegen Jean Louises Kritik an Atticus relativiert.

Der Atticus in KM steht wie auf einem Sockel, von dem aus er die Durchschnittsbürger überragt, indem er sich für die Gleichstellung aller Menschen einsetzt. Der Atticus in GSW befindet sich mitten unter denen, die eine Abwehrhaltung gegen die Schwarzamerikaner an den Tag legen und sich dem Ringen derer um gleiche Rechte für alle aktiv widersetzen, da sie um ihre eigene Sicherheit fürchten. Insofern wird das Beharren auf dem Status quo für sie zu einer Form der Selbstverteidigung. Dabei sehen die Menschen im amerikanischen Süden sich selbst nicht als Rassisten,(21) sie halten jedoch, vielfach aus Angst, stark an ihrer traditionellen Lebensart fest.

Der Atticus in KM mag fast übermenschlich oder heroisch wirken, aber er ist auch zusammenhängend und einheitlich konzipiert. Der Atticus in GSW mag komplexer, differenzierter, vielleicht sogar als Mitglied der Gemeinschaft menschlich leichter akzeptabel erscheinen. Dass sie, zusammen genommen, indes keine überzeugende oder glaubwürdige Einheit bilden, liegt auf der Hand. Als Figur in beiden Roman ist er nicht glaubwürdig.(22)) Das jetzt erstmalig publizierte Buch GSW hat damit eine ganz andere Botschaft. Auf die weitere Auseinandersetzung mit dem Text von GSW darf man gespannt sein. Es ist nicht auszuschließen, dass der erst jüngst publizierte Roman die Rezeption des heiß geliebten Klassikers sowie das Image der Autorin nachhaltig verändern wird.(23)

Ein Weiteres bleibt festzuhalten. Das Manuskript von GSW war dem Verleger Lippincott in den 50er Jahren für eine Veröffentlichung nicht gut genug. Dann blieb es mehr als 50 Jahre unverändert, und es spricht sehr für den Text, dass er noch immer aktuell ist. Welcher der beiden Romane länger in unsere moderne Zeit passt, bleibt abzuwarten. Der Klassiker kann sehr wohl ohne seinen später angesiedelten, später publizierten, aber früher geschriebenen Vorgänger existieren: das hat er bereits mehr als ein halbes Jahrhundert lang bewiesen. Ob das auch für GSW gilt, muss die Zukunft zeigen. Somit scheinen im Moment alle Vorteile auf Seiten von KM zu liegen. Es ist daher zu vermuten, dass sich dieser Roman als wahres Vermächtnis der Autorin erweisen wird.


Mögliche Konsequenzen für die Unterrichtsarbeit
KM ist seit langem auch bei uns ein etablierter Roman im Englischunterricht, womit sich die Frage erhebt, ob die Rezeption des jüngst erschienenen Nachfolgewerks Auswirkungen auf die Unterrichtsarbeit haben wird. Das ambitionierteste Vorhaben wäre natürlich, den Roman insgesamt mit KM zu vergleichen, aber das scheitert in der Praxis zu Beginn des Jahres 2016 wahrscheinlich schon daran, dass (noch) keine preiswerte Taschenbuchausgabe zur Verfügung steht. Aber selbst in dem Fall wäre die Frage, ob ein systematischer Vergleich beider Romane wünschenswert wäre. Praxisnäher indes ist etwa ein Versuch, nach einer kurzen allgemeinen Charakteristik von GSW ausgewählte Passagen oder das gesamte Kapitel 17 als Zusatzmaterial in einem Kurs einzusetzen, der sich mit KM beschäftigt hat: dafür stehen Unterrichtsmodelle und Fachliteratur zur Verfügung (24). Die Schüler werden darauf hingewiesen, dass die Auseinandersetzung zwischen Jean Louise und Atticus erst kurz vor Schluss des Romans stattfindet und etwa folgendermaßen in den Kontext eingeführt:

The events in GSW are supposed to take place in Maycomb, Alabama in the 1950s. Jean Louise Finch, now 26, is working and taking care of herself in New York. In her holiday she comes home to visit her father Atticus Finch, now 72, who, in spite of suffering from severe arthritis, is still working as a lawyer. Jean Louise is struck by the fact that many things have changed in Maycomb, and she is haunted by growing doubts whether this is still her home. After a long time of hesitation and after many talks with her friends and family members the following controversy between her and her father is supposed to take place.

Dabei ist es denkbar, zwei Schüler mit der Lektüre des erwähnten Kapitels und mit der Erstellung eines Referats zu beauftragen, in dem die wichtigsten Argumente beider Parteien in schriftlicher Form der Klasse/den Kursteilnehmern vorgelegt werden. Eine Alternative besteht darin, dass alle Schüler das Kapitel 17 lesen und eine Zusammenfassung anfertigen. Damit ergeben sich beinahe wie von selbst verschiedene mündliche und schriftliche Arbeitsformen und Aufgabenstellungen zu einem konkreten Text (close reading) bzw. zur komparativen und kontrastiven Textarbeit von GSW und KM (comparative and/or contrastive analysis).

Folgende Diskussionsfragen sind denkbar, wobei die Teilnehmer darlegen sollen, welchem Standpunkt sie zustimmen und welche Gründe für sie maßgeblich sind:

Questions for Discussion:
a) concerning the political situation
Try to find some clichés concerning black people in the text. Are they justifiable?
Do you think the fear of black majority rule is justified? Do you think that the NAACP wants to overthrow the South?
Or is this vision used as a tool/is it instrumentalized to criticize the Supreme Court and the NAACP?
Do you think you can today possibly argue against the Civil Rights Movement?
Is the Supreme Court's decision unconstitutional, namely an intervention in state policies?
Do you think that the abolition of the tenth amendment does not do justice to the reality in the South? Does the Supreme Court patronize („bevormunden/gängeln“) people in the South?

b) concerning Atticus
Do you think that his criticism of the Blacks' “voting in blocs“ is justified (p. 243)?
How can you overcome the principle "For Whites only“ if the Blacks are not allowed to vote?
Do you consider the system of segregation as a legitimate means of self-defense?
If black people are inferior, stupid … isn't it necessary to abolish segregation of schools as quickly as possible? (education as one or the only real means of social improvement?)
How can black people make progress/improve their situation if segregation is maintained?
Is it correct to say that Atticus in KM is the "saintly symbol of decency and justice"?(25)
Do you think the figure of Atticus in GSW is in accordance with that developed in KM? If so, why? If not, why not?
Has he become a white supremacist/a Southern racist?
Is Atticus the same person in KM and GSW: is he a credible character? Or do you see, as far as his character is concerned, any contradiction(s) between the two novels?

c) concerning Jean Louise:
Do you think that Jean Louise's blindness is due to her idealization and/or her idolization of her father as an educator?
Is it correct to say that she has "confused her father with God“? (p. 265)
In that case, reducing him to the status of a human being (p. 266) would be an easy solution of their conflict. Do you agree or diagree?
Do you think that Jean Louise is an "emotional cripple"?(p. 265) Is this value judgement justified or just an example of powerful rhetoric?
Is her controversy with Atticus "a means of coming into the world" (p. 263) and becoming her own person? (p. 264)
Do you think that Jean Louise's talk with her father is a shock of recognition that leads to a credible change in her attitude to life/to the world? Do you think that Atticus's positions are contrary to everything he has taught her?

d) concerning the final evaluation:
What do you think of Atticus's and Jean Louises standpoints? Why do they differ so much?


Eine besonders reizvolle kreative Textaufgabe besteht daran, dass die Schüler aufgefordert werden, aus ihrer Sicht ein mögliches Romanende zu verfassen. Es steht zu erwarten, dass einige Schüler für einen versöhnlichen Schluss, andere für einen dauerhaften Bruch zwischen Vater und Tochter plädieren. Dieser Umstand ist darauf zurückzuführen, dass die beiden Romane zwar zusammengehören, aber doch ein einmaliges bzw. merkwürdiges Geschwisterpaar bilden. Es dürfte deutlich geworden sein, dass es für Harper Lee besonderer Anstrengungen der Imagination bedurfte, um im nach hinein zu GSW einen adäquaten Folgeband zu schreiben, der keine Fortsetzung, sondern eine Grundlegung der fiktiven Ereignisse lieferte: "Once the dust has settled, GSW will be seen for what it is: ... a fascinating illustration of the mysterious pathways of the creative imagination."(26)


Anmerkungen
(1) Die Zahl der Vorbestellungen für GSW war astronomisch: vgl. BBC News. Retrieved July 14, 2015.
Vgl. Robert McCrum, "Go Set a Watchman by Harper Lee. Review - a Literary Curiosity," The Guardian, 3/3.

(2) "Go Set a Watchman", Wikipedia, 3/9.

(3) Ebd.

(4) Ebd. 5/9.

(5) Ebd.

(6) Vgl. Robert McCrum, 3/3.

(7) Adam Gopnik, "Sweet Home Alabama, Harper Lee's 'Go Set a Watchman'", The New Yorker, 1/7.

(8) Wikipedia, a.a.O., 5/9.

(9) Belege für diese Verdikte finden sich in Wikipedia, a.a.O., 7/9.

(10) Wikipedia, a.a.O., 4/9.

(11) Vgl. Harper Lee, Go Set a Watchman (London: Heinemann, 2015), p. 29; vgl. auch p. 117. Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe und werden von hier an mit Hilfe von (…) im laufenden Text eingefügt.

(12) Wikipedia, a.a.O., 2/9.

(13) Vgl. zu diesem Aspekt To Kill a Mockingbird (London: Mandarin, dritte Auflage, 1994) p. 145; die Seitenangaben beziehen sich im Folgenden auf diese Taschenbuchausgabe des Romans.

(14) Die ungewöhnliche Metapher "run against the machine“ findet sich nur einmal im Text (p. 77). Atticus arbeitet in der staatlichen Rechtssprechung ("state legislature“). In seiner beruflichen Nachfolge muss Hank als Angehöriger der weißen Unterschicht mit dem Widerstand des konservativen Establishments rechnen.

(15) Hier liegt wohl eine Anspielung auf den Roman einer Erzählerin aus dem amerikanischen Süden vor, in dem die junge Protagonistin der Illusion unterliegt, die Hochzeit der Brautleute auf einer gemeinsamen Ebene mit ihnen erleben zu können: vgl. Carson McCullers, The Member of the Wedding (1946).

(16) Diese Anspielung bezieht sich auf die historische Figur des Nat Turner, dessen gewaltsamer Versuch zur Sklavenbefreiung im Jahre 1831 in Virginia stattfand. Vgl. dazu The Confessions of Nat Turner, die im gleichen Jahr von dem Anwalt Thomas Ruffin Gray veröffentlicht wurden.

(17) Atticus' Position ist damit gemäßigter als die seiner Schwester Alexandra; vgl. p. 150. Er ist gegen die Unterdrückung der Schwarzamerikaner und gegen jede Form der Gewaltanwendung von Seiten des Ku-Klux-Klan; vgl. p. 268. Indes wird nicht klar, wie aus seiner Sicht die Schwarzamerikaner derartige Fortschritte erreichen können, dass sie mit den Weißen auf einer Stufe stehen.

(18) Was in GSW für Atticus ein beruflicher Grundsatz ist, fungiert in KM als Erziehungsprinzip; vgl. dazu zwei Zitate weiter unten in dem Passus „Kritische Anmerkungen“.

(19) Dieser Grundsatz taucht in GSW einmal mehr in Jean Louises Erinnerung auf: vgl. p. 108. In KM zitiert sie den gleichen Satz einmal im schulischen Unterricht: vgl. p. 270. Eine leichte Variation, die stärker an die Declaration of Independence erinnert, stellt in GSW folgende Feststellung dar: "All men are created equal" (p. 176). In diesem Kontext werfen ironischerweise die Rassisten der NAACP vor, dass sie diesen Grundsatz verwirklichen wolle. Der Gleichheitsgedanke wird in KM wieder aufgenommen, zum Beispiel in Atticus' Plädoyer für den vermeintlichen schwarzen Vergewaltiger Tom Robinson; vgl. p. 226f.
Allerdings scheint es in diesem Roman für Atticus und Scout in Ordnung zu sein, dass eine Frau nicht Mitglied einer Jury sein darf. Mindestens bezüglich dieses einen Aspekts herrscht somit in Maycomb keine Gleichberechtigung von Mann und Frau; cf. KM, p. 244f.

(20) Die Verfolgung der Juden durch Hitler war für Scout Gegenstand des Geschichtsunterrichts; cf. KM: pp. 270-272.

(21) Vgl. Adam Gopnik, The New Yorker,, a.a.O., 6/7.

(22) Adam Gopnik indessen sieht keinen Widerspruch zwischen Atticus' Tätigkeit als Anwalt der Schwarzamerikaner und seinem Mißsstrauen gegenüber der Bürgerrechtsbewegung; vgl. The New Yorker, a.a.o., 4/7.

(23) Vgl. Christina Horsten, "Jetzt ein Rassist. Roman von Harper Lee schockt die USA,"" Westfälischer Anzeiger, 15. Juli 2015.

(24) Vgl. Bibliographische Auflistung: Editionen und Fachliteratur, Harper Lee.

(25) Vgl. Robert McCrum, a.a.O., 2/3.

(26) Vgl. Robert McCrum, a.a.O., 3/3.


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Last Updated by Dr. Willi Real on Sunday, 21 February, 2016 at 10:00 AM.