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Minderheitenromane in Großbritannien




Joan Lingard, The Twelfth Day of July (1970)

Dieser Roman bildet den Auftakt einer Serie von Erzählungen, in denen die jugendlichen Charaktere Sadie Jackson und Kevin McCoy im Mittelpunkt stehen. Der 12. Juli ist für die nordirischen Protestanten ein geschichtsträchtiges Datum: an diesem Tag gedenken sie der Schlacht bei Boyne, in der im Jahre 1690 Wilhelm von Oranien die katholischen Truppen unter Jakob II entscheidend besiegte.

Der Roman schildert eine Reihe von Ereignissen in den Tagen vor diesem historischen Gedenktag. Sadie und Kevin stammen aus zwei Belfaster Familien unterschiedlicher Konfession. Die protestantische Sadie, ihr Bruder Tommy und ihre Familie leben in freudiger Erwartung der Feiern, für die auch ein Umzug mit Bannern und Musik geplant ist. Der katholische Kevin, seine Schwester Brede und ihre Freunde sehen dem Ereignis mit gemischten Gefühlen entgegen: sie fühlen sich schon durch den Klang der Trommeln provoziert.

Für die Darstellung der Ereignisse ist es wesentlich, dass die Autorin Joan Lingard ausschließlich sachlich und absolut unparteiisch berichtet. Immer wieder streut sie Hinweise ein, dass eigentlich die Straßen, die Häuser und die Lebensweise der verfeindeten Parteien sehr ähnlich sind. Deren Einstellung zueinander indes ist von gegenseitigen Vorurteilen bestimmt, die von den Eltern auf die Kinder tradiert werden und die infolgedessen auch das Denken der jugendlichen Akteure bestimmen: sie sind im Kreis politischer Schlagworte und rückwärtsgewandter Parolen gefangen. Unvoreingenommene Kontakte erscheinen in dieser Atmosphäre unmöglich; stattdessen drohen Konfrontationen und Konflikte. Zwar setzt die Polizei auf eine strikte Trennung der Konfessionen gerade in den kritischen Tagen vor einem historischen Jubiläum, doch werden die Jugendlichen vom Reiz des Verbotenen und von möglicher Gefahr magisch angezogen.

In der Nacht zum 12. Juli entladen sich die aufgestauten Aggressionen auf gewaltsame Weise: Pflastersteine fliegen. Ausgerechnet die besonnene Brede wird so schwer am Kopf getroffen, dass sie ins Krankenhaus gebracht werden und sich einer Notoperation unterziehen muss. Für Sadie und Tommy bedeutet der Vorfall einen schweren Schock. Sie beide sagen - zur großen Enttäuschung ihrer Eltern - ihre Teilnahme am Umzug ab. Von Kevin erfahren sie, dass Brede über den Berg ist, und gemeinsam verbringen sie den Tag am Strand.

Seit 1990 gibt es im Cornelsen-Verlag eine Schulausgabe des Texts, die einen Sprach- und Sachkommentar sowie einen methodischen Apparat enthält. Wie für andere Nordirland-Romane stellt sich auch in diesem Fall die Frage nach der Aktualität. Seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 scheint eine Aussöhnung von Katholiken und Protestanten in Nordirland nicht mehr unmöglich. Im Juli 2005 proklamiert die Irisch-Republikanische Armee (IRA) das offizielle Ende des Kampfes und fordert zudem ihre Anhänger zu einer Niederlegung der Waffen auf, was allerdings von der protestantischen Seite mit Skepsis aufgenommen wird. Im Januar 2007 erkennen die Katholiken in einem historischen Beschluss zum ersten Mal die Rechtmäßigkeit der Polizei an. Nach den für März 2007 geplanten Neuwahlen hofft man auf eine von beiden religiösen Konfessionen bzw. Parteien gemeinsam gebildete Regierung. Ob sich eine dauerhafte Friedenslösung durchsetzt, muss die nahe Zukunft zeigen.

In jedem Fall lässt sich die Problematik von Vorurteilen mit Schülern eindrucksvoll am Text des Werks erarbeiten. Aufgrund seines überschaubaren Umfangs (125 Seiten Text) und aufgrund der nicht allzu hohen sprachlichen Anforderungen sollte dies von der Klasse 11/1 an möglich sein; eine selektive Lektüre des Romans ist sicher schon in der Sekundarstufe I durchführbar.


Peter Carter, Under Goliath (1977)

Das Nordirlandproblem ist Lehrern und Schülern seit langem über fiktionale und nicht-fiktionale Texte zugänglich. Zur Zeit dürfte sich dieses Thema indes keiner unterrichtlichen Hochkonjunktur erfreuen. Seit dem Friedensabkommen vom Karfreitag 1998 scheint Licht am Ende des Tunnels zu sein, auch wenn zur Zeit niemand ausschließen kann, dass sich die Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden in diesem seit langem von bürgerkriegsähnlichen Unruhen gezeichnetem Land als trügerisch erweist. Zur jüngsten Entwicklung jedoch vgl. auch den vorstehenden Knapptext.

Peter Carters vor rund zwei Jahrzehnten veröffentlichtes Werk ist ein anspruchsvolles Jugendbuch, in dem die Ereignisse von dem 13jährigen protestantischen Erzähler Alan Kenton berichtet werden, der vor allem jugendlichen Lesern als Identifikationsfigur dienen kann. Die Handlung, die im Jahre 1969 in Belfast spielt, ist maßgeblich von einer intensiven Freundschaft zu dem katholischen Jungen Fergus Riley bestimmt. Natürlich steht diese unter keinem günstigen Stern: von Anfang an sind die Kontakte der beiden Jungen dem Diktat der Erziehung zu konfessionellen Vorurteilen ausgesetzt, die wie selbstverständlich auf beiden Seiten von einer Generation zur nächsten tradiert werden.

Bezeichnenderweise hat der Autor seinem Roman das persische Sprichwort vorangestellt: "I saw a beast upon a mountain side. It became closer and I saw it was a man. We drew together, and it was my brother." Dem hier dargestellten Lernprozess entspricht die Entwicklung der Handlung bzw. der Erkenntnisgewinn der beiden Jugendlichen, die zur konkreten Personalisierung bzw. Exemplifizierung der abstrakten Positionen dienen. Ihre Sichtweise vermag den Schülern die Erkenntnis zu vermitteln, dass Vorurteile auf Unkenntnis beruhen, dass Vorverurteilungen sich an der Realität messen lassen müssen, dass vorgefasste Meinungen der Überprüfung nicht standhalten, dass näheres Kennenlernen eine adäquatere und differenziertere Wahrnehmung und Beurteilung der Realität ermöglicht. Dennoch ist der Ausgang des Romans nicht so optimistisch, wie es das vorangestellte Motto zu verheißen scheint.

Zunächst einmal ist die Freundschaft von Alan und Fergus nur vorübergehender Natur, dann sind sie beide wieder Teil der konfliktbeladenen Auseinandersetzung, der sich niemand in Belfast entziehen kann. Dabei verläuft beider Leben durchaus in vergleichbaren Bahnen: beide schaffen keinen Schulabschluss, nehmen Gelegenheitsarbeiten an, stehen oft in der Schlange der Arbeitslosen und werden schließlich Berufssoldaten. Das Schicksal führt sie erst wieder zusammen, als Fergus bei der unglücklichen Explosion einer Granate ums Leben kommt.

Doch verspürt Alan kein Bedürfnis, mit den Eltern seines ehemaligen Freundes Kontakt aufzunehmen oder nach Belfast zurückzukehren. Was er fühlt, ist eine ohnmächtige Wut angesichts der Grenzen, die absolut sinnlos sind und nur den Effekt haben, dass sie Menschen voneinander trennen. Letztlich wirkt auch der an die Bibel erinnernde Titel des Romans allenfalls wie ein ambivalentes Symbol. Goliath ist der Name eines riesigen Krans, von dessen Spitze aus Belfast - im Widerspruch zur Realität - wie eine Einheit aussieht. Gleichzeitig hat er etwas Bedrohliches.

Dieser Roman wurde erfolgreich bereits am Ende der Sekundarstufe I eingesetzt (vgl. "Bibliographische Auflistung", Dieter Weis). Allerdings ist ein solches Vorhaben m.E. nur in einer besonders leistungsstarken Klasse möglich, denn immerhin hat der Roman 168 Seiten, ist sprachlich nicht einfach, und eine kommentierte Schulausgabe sucht man bisher auf dem didaktischen Markt vergeblich. Es scheint daher sinnvoller zu sein, den Text auf der Grenze zwischen der Sekundarstufe I und der Sekundarstufe II anzusiedeln: sicherlich ist das Werk für den Jahrgang 11/1 noch keine Unterforderung. Selbst wenn zur Zeit, vielleicht für immer, die Aktualität des landeskundlichen Kontexts verloren geht, bleibt der Roman wegen der Vorurteilsthematik unterrichtlich relevant. Insofern ist und bleibt Peter Carters Werk eine empfehlenswerte Option.


Bernard MacLaverty, Cal (1983)

Im Mittelpunkt des in Nordirland spielenden Romangeschehens steht der 19jährige Cal McCluskey, der allein mit seinem Vater Shamie lebt. Die Mutter starb, als Cal acht Jahre alt war. Während Shamie einen Job in einem Schlachthof hat, ist Cal arbeitslos. Die beiden McCluskeys wohnen als einzige Katholiken in einer protestantischen Nachbarschaft. Und es herrscht praktisch Bürgerkrieg: aufgrund eines ausgeprägten wechselseitigen Misstrauens gibt es nicht nur latente Spannungen, sondern auch offene Konflikte bis hin zu mit Drohungen verbundenen Aufforderungen an die Adresse der McCluskeys, ihr Haus aufzugeben und zu verlassen. Doch sie weigern sich.

Cal wird von Angehörigen der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) gezwungen, als Fahrer bei kriminellen Aktionen mitzumachen. Einmal fährt Cal das Fluchtauto nach einem Banküberfall, ein anderes Mal geht es angeblich um die 'Bestrafung' eines Polizisten, in Wirklichkeit um dessen kaltblütige Erschießung. In der Stadtbücherei lernt er Marcella kennen. Sie ist die Witwe des Mannes, an dessen Ermordung Cal beteiligt war, eine Tatsache, die ihm von Anfang an bewusst ist. Sie lebt mit ihrer Familie außerhalb der Stadt auf einer Farm. Cal verliebt sich ausgerechnet in diese Frau, nachdem er dort mit Erfolg um Arbeit nachgesucht hat. Es ist von vornherein deutlich, dass zwischen Marcella und Cal eine unüberbrückbare Distanz besteht und dass seine Liebe zu ihr aussichtslos ist. Glücksgefühle verbinden sich mit dem Drang, seine Komplizenschaft einzugestehen und um Vergebung zu bitten, doch dazu vermag Cal sich nicht zu überwinden.

Inzwischen haben radikale Protestanten ihre Drohungen wahr gemacht, Cal zusammengeschlagen und das Haus der McCluskeys niedergebrannt. Obwohl Shamie bei einem Cousin unterkommt, bedeutet für ihn der Verlust seines Hauses und seines Gartens einen Schlag, von dem er sich nicht mehr erholt. Er, der stets charakterfest und standhaft war, ist nun den Belastungen seines Jobs nicht mehr gewachsen. Er wird depressiv und muss zur stationären Behandlung ins Krankenhaus. Eines Tages wird Cal überraschend verhaftet. Es steht zu erwarten, dass nun seine Beteiligung bei den kriminellen Aktionen der IRA ans Tageslicht kommt. Damit endet die Handlung des Werkes.

Cal ist ein Roman über das Nordirlandproblem, in das eine sentimentale und konstruiert anmutende Liebesgeschichte eingeflochten wurde. Der Bürgerkrieg fordert auf beiden Seiten sinnlose Opfer, beide Parteien gebrauchen Gewalt und setzen rücksichtslos Waffen ein: ihr Tun erscheint wie der vergebliche Versuch von Schuljungen, eine Hackordnung zu errichten. Die im Jahre 1998 erschienene Schulausgabe (Diesterweg) enthält zwar weder Zusatzmaterial noch einen methodischen Apparat, weist aber (in Fußnotenform) sprachliche und sachliche Annotationen auf. Der Roman ist von seinen sprachlichen Ansprüchen her und aufgrund seiner Spannung von der Klasse 11/2 an sehr gut lesbar. Allerdings bleibt zu hoffen, dass sich der zur Zeit noch brüchige Frieden als stabil und zählebig erweist und Nordirland-Romane dieser Art bald nur noch ein historisches Interesse beanspruchen können.
Cf.
Anzeigen, 3.


Rhodri Jones, Hillsden Riots (1985)

Es handelt sich um einen Roman über schwarz-weiße Rassenbeziehungen im damaligen Großbritannien. Ein Missverständnis führt zu ersten Unruhen. Wayne MacMorris, aus dessen Perspektive weite Teile erzählt werden, wird anlässlich einer Demonstration in eine gewaltsame Auseinandersetzung mit der Polizei verwickelt und dabei verletzt. Sein ganz anders veranlagter Bruder Colin, der bestrebt ist, auf dem Bildungswege nach oben zu kommen, sucht und findet den Verletzten. Zusammen fliehen sie vor der Polizei und gelangen nach Überwindung einiger Schwierigkeiten glücklich nach Hause. Dabei entwickeln die unterschiedlichen Brüder Verständnis füreinander.

Der Roman ist spannend zu lesen, erinnert aber in vielerlei Hinsicht an die schwarzamerikanischen Romane der gleichen Gattung. Falls die Problematik 'zündet', ergeben sich viele Diskussionsanlässe. Von seinen sprachlichen und sachlichen Anforderungen her kann der Roman von der Klasse 12/2 an im Unterricht Verwendung finden.


Brian Moore, Lies of Silence (1990)

Michael Dillon, Geschäftsführer eines Hotels in Belfast, wird von Terroristen der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) gezwungen, sein mit einer Bombe beladenes Auto durch die Sicherheitsbarrieren bis vor sein Hotel zu fahren, in dem eine Versammlung militanter Protestanten stattfindet, während seine Frau als Geisel festgehalten wird. Dillon geht auf das grausame Spiel ein, bis ihm auf einmal klar wird, dass die IRA einen Anschlag plant, der nicht nur das Gebäude, sondern vermutlich zahlreiche Menschenleben zerstören wird.

Spontan entschließt er sich, die Polizei anzurufen, womit er das Leben seiner Frau bewusst aufs Spiel setzt. Zwar kommt diese mit dem Leben davon, doch trennt sie sich anschließend von ihrem Gatten. Ihm wiederum kommt dieses Verhalten sehr gelegen, da er ohnehin mit einer BBC-Reporterin eine neue Verbindung eingehen wollte. Obwohl er aus Sicherheitsgründen nach London versetzt wird, entgeht er nicht der Rache der IRA: ein Killerkommando erschießt Dillon in seiner neuen Londoner Wohnung. Der Titel bezieht sich auf die Tatsache, dass Dillon einer Aussprache mit seiner Frau mehrmals ausweicht, aber auch auf die Tatsache, dass die Politiker die Wahrheit verschweigen.

Lies of Silence ist ein spannender Nordirland-Roman, der nicht in die gängigen Klischees passt; er stellt einen in der Klett-Ausgabe um 20 % gekürzter Thriller dar, der auch ein gewisses literarisches Niveau besitzt. Ein Einsatz im Unterricht erscheint von der Klasse 11 an möglich.


James Heneghan, Torn Away (1994)

Torn Away ist ein vergleichsweise neuer Roman über Nordirland, der von einem Autor britischer Abstammung verfasst wurde, der schon im Jahre 1957 nach Kanada emigrierte.

Der erst 13jährige Declan Doyle hat seine gesamte Familie verloren. Seine Mutter und seine jüngere Schwester fielen einem Bombenanschlag zum Opfer, während sein Vater als aktives Mitglied der Irisch Republikanischen Armee (IRA) nach Declans Überzeugung von Protestanten erschossen wurde. Die Handlung setzt damit ein, dass der Jugendliche gegen seinen Willen aus Nordirland zur Familie seines Onkels nach Kanada abgeschoben wird. Der militant eingestellte Declan versteht sich als Mitglied einer unterdrückten Minderheit von Freiheitskämpfern und sinnt nur auf rasche Rückkehr, auf Rache und Vergeltung. Nach einem vergeblichen Fluchtversuch schließt der Junge mit seinem Onkel Matthew einen Handel ab. Er stimmt zu, die Zeit von September bis Weihnachten in Kanada zu verbringen. Falls er danach noch immer nach Irland zurückkehren will, ist der Onkel zur Bezahlung eines entsprechenden Flugtickets bereit.

Zu diesem Zeitpunkt des Romans fällt es dem Leser schwer, für Declans radikale und kompromisslose Haltung Verständnis zu entwickeln. Es ist daher von Vorteil für das Werk, dass neben dem Protagonisten zahlreiche Figuren des Romans ein eigenes Profil besitzen. Da ist zum einen der stets hilfsbereite Matthew mit seiner ruhigen, aber entschiedenen Art. Da ist zum anderen seine selbstbewusste und sensible Frau Kate, die für Declan sorgt, aber auch ihren künstlerischen Neigungen nachgeht. Zur Familie gehört darüber hinaus der mongoloide Adoptivsohn Thomas, dem es als erstem gelingt, Declans Vertrauen zu gewinnen. Und da ist ferner die ebenfalls adoptierte aufgeschlossene Tochter Ana, die fast das gleiche Alter wie Declan aufweist und die in der Schule für ihn eintritt. Und hier gewinnt der junge Ire den von den Ureinwohnern abstammenden Joe Summers zum Freund. All diese Personen begegnen Declan mit Freundlichkeit, Geduld und Verständnis, und so entsteht allmählich zusammen mit den Bindungen zu seiner neuen Umwelt ein innerer Konflikt in Declan.

Seine persönliche Krise erreicht eine neue Dimension, als er von seinem Onkel, der ebenfalls früher Mitglied der IRA war, die Wahrheit über seinen Vater erfährt. Als in ihrem Wohnblock Sprengstoff gefunden wurde, kamen Declans Vater und seine schwangere Frau ins Untersuchungsgefängnis. Um ihr eine längere Haft zu ersparen, willigte der Vater ein, als Informant für die Polizei zu arbeiten, d.h. dass er die Liebe zu seiner Frau und zu seiner Familie über die Ziele der Freiheitskämpfer stellte. Seine Doppelrolle blieb nicht lange verborgen, und er wurde von den eigenen Leuten als Verräter (und nicht im Kampf von den Feinden) erschossen. Wie sich Declan schließlich entscheidet - das macht die Spannung der letzten Romankapitel aus.

Bezeichnenderweise ist der Roman nicht aus der Ich-Perspektive geschrieben, mit der sich in aller Regel eine Einladung zur Übernahme eines subjektiven Standpunktes verbindet. Ein 'objektiver' Erzähler der dritten Person sorgt für mehr Ausgewogenheit und lässt neben Declans Fanatismus auch einen Standpunkt wie den seines Onkels zu seinem Recht kommen, dass gegenseitiges Töten keine Konfliktlösung bringen kann.

Das Werk ist mit einem Umfang von ca. 140 Seiten noch gut überschaubar und aufgrund seiner gelungenen Synthese von äußeren und inneren Handlungselementen stets gut zu lesen. Es liegt eine annotierte und kommentierte Ausgabe (Cornelsen) vor, die mit einer biographischen Skizze versehen wurde. Aufgrund seiner sprachlichen und thematischen Anforderungen erscheint eine Lektüre von der Jahrgangsstufe 11/2 an empfehlenswert.


Joan Lingard, Dark Shadows (1998)

Joan Lingard wurde zwar in Edinburgh geboren, wuchs aber in Belfast auf. Da sie die Jahre ihrer Adoleszenz als prägend für ihr weiteres Leben ansieht, ist es zu verstehen, dass sie immer wieder fiktionale Werke hervorbringt, die in dem nach wie vor vom Bürgerkrieg bedrohten Land angesiedelt sind. Schon der Titel des o.g. Romans besitzt metaphorische Bedeutung: dunkle Schatten liegen drohend über Belfast und seine Bewohner. Wenn Protestanten und Katholiken konfliktfrei nebeneinander wohnen und arbeiten, ist das immer noch nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme in der größten Stadt Nordirlands.

In Dark Shadows geht es um die Brüder Tommy und Ed Magowan und ihre Familien. Vor rund zwanzig Jahren ist Tommy Magowan zum katholischen Glauben konvertiert, weil er eine Katholikin heiraten wollte. Tommy ist Betreiber einer Autowerkstatt und lebt mit seiner Frau Maeve und seinen Kindern Jess und Danny in relativ wohlhabenden Verhältnissen, während sein Bruder Ed arbeitslos ist und er daher mit seiner Frau Beryl, seiner Tochter Laurie und seinem Sohn David (Dave) in einem von Armut geprägten protestantischen Stadtviertel wohnen muss. Seit Tommys Hochzeit haben beide Familien bewusst jeden Kontakt vermieden.

Nur durch einen Zufall lernen Jess und Laurie einander kennen. Jess besucht in Begleitung ihres Vetters Neal O'Shea einen Belfaster Musikclub, in dem Laurie als Sängerin auftritt. Die jungen Leute kommen ins Gespräch und beschließen, als Team an einem öffentlich ausgeschriebenen Musikwettbewerb teilzunehmen, bei dem einige attraktive Geldpreise winken. Daher treffen sie sich heimlich, um einen Song zu komponieren und einzuüben.

Obwohl die ältere Generation mit Verboten und Kontrollversuchen reagiert, gelingt es dem jungen Trio, fristgerecht einen Beitrag einzureichen und damit in die Endausscheidung vorzustoßen. Ihr Song thematisiert nicht nur den familiären Konflikt, sondern bewirkt sogar einen ersten Brückenschlag zwischen den beiden Parteien. Schließlich ist es jedoch vor allem Dave, der unfreiwillig entscheidend zur Versöhnung der Familien beiträgt: zusammen mit Danny wird er bei einem Autounfall lebensgefährlich verletzt.

Joan Lingards Roman weist eine einfalls- und ereignisreiche Handlung auf, die überraschende Wendungen, zahlreiche Spannungsmomente, einen zentralen Konflikt und eine Problemlösung enthält. Die Alltagsprobleme beider Familien sind in gelungener Weise fiktionalisiert, doch wird die literarische Darstellung keineswegs von ungetrübter Harmonie bestimmt. Auch Gewalt und Kriminalität gehören für Lingard in Belfast zum täglichen Leben: reichlicher Alkoholkonsum und Drogenhandel, Fahrrad- und Autodiebstähle, Bomben- und Brandanschläge, Schutzgeldforderungen und -zahlungen sind in die Handlung integriert.

Seit 2002 liegt eine Schulausgabe des Romans bei Diesterweg vor (Herausgeberin: Ursula Hebel-Zipper). Dem Text vorangestellt ist ein Passus mit der Überschrift: "How to read an English book without a dictionary." Hierzu sind zwei Bemerkungen zu machen: (1) Die an die Lernenden gerichteten Ausführungen stellen ein an sich richtiges Plädoyer für selbständiges Lesen dar. Doch sind diese keineswegs neu; meines Wissens war es Peter Bruck, der schon 1989 in seiner Ausgabe von Morton Rhues The Wave (erschienen im Klett-Verlag) dieses Konzept vorgestellt hat. (2) Das Problem, dass die Schüler leicht in Sprachfallen (false friends wie zum Beispiel fabric, genial, sensible, undertaker ... ) tappen, wird leider totgeschwiegen.

Zum Text selbst existiert in benutzerfreundlicher Fußnotenform ein Sprachkommentar; dieser enthält überwiegend einsprachige Erläuterungen, die von Lingard häufig verwendeten Idioms werden sorgfältig erklärt, und falls erforderlich, wird die phonetische Umschrift hinzugefügt. Zwar fehlt ein methodischer Apparat, dafür gibt es ein ungewöhnlich reiches Angebot an Zusatzmaterial. Dies reicht von bio-bibliographischen Informationen und einem Interview mit der Autorin über einen Stadtplan von Belfast und einen historischen Überblick zum Nordirlandkonflikt bis hin zu zahlreichen Websites und diversen Zusatztexten, unter denen sich zum Beispiel das Karfreitagsabkommen vom 10.4.1998 befindet.

Das stets gut lesbare Werk ist in 25 überschaubare Kapitel gegliedert und schon Ende der S I, besser anfangs der S II, sowohl für die Schulung des extensiven als auch des intensiven Lesens einsetzbar. Dark Shadows ist ohne Zweifel eine mediendidaktische Bereicherung der Irlandromane.


Roddy Doyle, A Star Called Henry (1999)

Um es vorweg zu sagen: Der vorliegende, vor rund zehn Jahren erstmalig veröffentliche Text ist kein aktueller Nordirland-Roman. Er handelt nicht von den noch nicht lange zurückliegenden, bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten, sondern vom Kampf der Iren gegen die britische Unterdrückung im vorigen Jahrhundert und ist der erste Band einer rund 1000 Seiten umfassenden Romantrilogie mit dem Titel The Last Roundup. Darin wird der Leser einerseits mit einem schier undurchdringlichen Dickicht von geschichtlichen Fakten konfrontiert, die andererseits mit dem persönlichen Schicksal des irischen Freiheitskämpfers Henry Smart kombiniert werden. [Bezüglich einer Zusammenfassung des zweiten und dritten Romans der Trilogie vgl. "Lesetipps", 8.]

Dabei bezieht sich der im Titel genannte Henry zunächst einmal auf einen bereits früher verstorbenen Bruder des Protagonisten, der (wie bereits im ersten Kapitel erwähnt) in der Vorstellung der Mutter als Stern am Himmel zu sehen ist. Doch liegt es natürlich nahe, den Titel auch auf den Henry Smart zu beziehen, der im Mittelpunkt der Geschehnisse steht (vgl. dazu z.B. p. 29) und der sich von Anfang selbst als eine Erlöserfigur begreift. Dessen umfangreiche Geschichte wird in drei Romanen erzählt, die alle in vier Teile gegliedert sind, und erst zum Schluss des dritten Bandes erreicht Henry endgültig den Status einer Berühmtheit, den eines wirklichen Stars. Für ihn sind die Iren noch in den 1980er Jahren eine von Großbritannien unterdrückte Minderheit.

Der erste Teil handelt von den frühen Lebensjahren des im Oktober 1901 geborenen Henry Smart. Trotz der Tatsache, dass Henrys Geburt für seine Eltern ein großes Glück bedeutet, verlebt der Junge eine sehr harte Kindheit. Sein Vater verlässt die Familie für immer, und auch die alkoholkranke Mutter kümmert sich nicht um ihre Kinder. So kommt es, dass Henry seinerseits mit fünf Jahren zusammen mit seinem jüngeren Bruder Victor sein Elternhaus verlässt, um auf den Straßen Dublins zu leben, und somit dienen weder die Eltern noch die Familie als Vermittlungsinstanz moralischer Werte. Um zu überleben, entfalten die Straßenkinder, vor allem natürlich Henry, einen starken Willen und einen großen Einfallsreichtum bei der Entwicklung von Strategien, indem sie arbeiten, betteln, stehlen und anschließend flüchten. Dennoch kann Henry nicht verhindern, dass Victor – wohl an Schwindsucht – urplötzlich stirbt. Diese Phase der Sozialisation Henrys dauert mehrere Jahre, aber es wird von Anfang an deutlich, dass Irland zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein von Hunger, Not und Armut gezeichnetes Land ist.

Mit Beginn des zweiten Teils, der vor allem vom irischen Osteraufstand handelt, ist Henry 14 Jahre alt. Der Junge schließt sich einer Gruppe von Rebellen an, die sich vom 24.4. bis 29.4.1916 im Hauptpostamt von Dublin verschanzen, um den britischen Kolonialherren Widerstand zu leisten. Hier erfährt der jugendliche Henry zum ersten Mal in seinem Leben menschliche Nähe und Solidarität, und es wird sehr rasch deutlich, dass Henry in diesem Stadium eher ein Klassen- als ein Freiheitskämpfer ist. Ohne Skrupel feuert er auf alles, was ihm in seinem bisherigen Leben verweigert wurde. Bald sehen sich Henry und seine Kampfgefährten indessen einer besser gerüsteten britischen Übermacht gegenüber. Bei dem Versuch, den feindlichen Belagerungsring zu durchbrechen, verlieren mehrere Kameraden Henrys ihr Leben, während ihm selbst es gelingt, durch das Dubliner Kanalsystem zu entkommen. Doch ist der Kampf gegen die Briten damit noch längst nicht vorüber.

Der dritte Teil handelt von der Vorbereitung des eigentlichen Freiheitskampfes der Iren, der 1921 zur Proklamation des irischen Freistaates (der Republik Irland) führt. In dieser Zeit wird Henry Smart nicht nur landesweit bekannt, sondern wird auch ein Teil der irischen Geschichte: als einer der wenigen Überlebenden des Osteraufstandes wird er zu einer nationalen Legende. Er reist im ganzen Land umher, bildet antibritische Kämpfer aus und vermittelt ihnen militärische Disziplin für den nächtlichen Guerillakrieg, in dem die Iren aus dem Hinterhalt Überfälle verüben und sich ebenso schnell wieder zurückziehen. In diese Zeit fällt auch Henrys Heirat mit seiner ehemaligen Lehrerin Miss O'Shea, die sich ihren persönlichen Wunsch nach Emanzipation erfüllt und wie ein Mann so leidenschaftlich die Briten bekämpft, dass sie als die "Maschinengewehr-Lady" bekannt wird. Die aus dieser Ehe hervorgegangene Tochter Saoirse sieht Henry im Kontext dieses ersten Romanbandes lediglich ein einziges Mal.

Darüber hinaus ist Henry in einer kleinen Eliteeinheit (den sog. 12 Aposteln) aktiv, die Polizisten (darunter auch in den Diensten der Briten stehende Iren) als Unterstützer und Spione abstempelt und diese erbarmungslos liquidiert, um den Gegner zu provozieren und bestimmte Gegenreaktionen hervorzurufen: dem Streben nach Freiheit werden alle anderen Wertvorstellungen untergeordnet. In einem ungleichen Kampf, in dem Irland keine wirkliche Chance hat, soll diese Art der Kriegsführung die Kolonialherren zermürben, doch führt die eingeschlagene Taktik zunächst nur zu einer Eskalation der Auseinandersetzungen. Die Briten schicken erfahrene Söldner ins Land, die ihren Job verstehen, so dass die Grausamkeiten und Gräueltaten des Krieges noch zunehmen. Sowohl Henry als auch seine Frau werden von britischen Kugeln getroffen, doch beide überleben. Aufgrund all dieser Erfahrungen beschließt Henry eines Tages für sich persönlich das Ende dieses Kampfes.

Der vierte und letzte Teil beschreibt, dass Henry in Gefangenschaft gerät und dass er trotz Folterung im Gefängnis Kilmainhaim keine Informationen preisgibt. Zudem muss er die Exekution eines Zellennachbarn miterleben. Als er endlich mit Hilfe seiner Frau entkommen kann, beschließt er, nach Liverpool zu gehen und ein neues Leben zu beginnen. Inzwischen ist er 20 Jahre alt. Seine Frau bleibt derweil im Gefängnis in Irland zurück. Obwohl die Briten der Gründung der Irischen Republik zustimmen, hat Henry das Gefühl, dass sein ganzer Kampf sinnlos gewesen ist, da irische Kriegsgewinnler wie etwa Ivan Reynolds, ein Cousin Miss O'Sheas, ihre neue Macht missbrauchen, indem sie aus den Ereignissen finanzielle Vorteile ziehen. Die Unterdrückung durch die Engländer hat zwar ein Ende, doch kommt es im irischen Freistaat zu einer anderen Kontrolle des Landes.
Henry resigniert jedoch nicht, bevor er an Alfie Gandon (alias O'Ganduin), einem Politiker von nationaler Größe, Vergeltung übt, den er für den Tod seines lettisch-jüdischen Freundes David Climanis verantwortlich macht. Henry erschlägt Alfie Gandon mit dem Holzbein seines Vaters, wobei er erst nach der Tat erfährt, dass Gandon auch seinen Vater umgebracht hat. Mit diesem ironisch gefärbten Akt poetischer Gerechtigkeit endet die Beschreibung des irischen Freiheitskampfes in A Star Called Henry. Im zweiten Band der Trilogie mit dem Titel Oh, Play that Thing ist u.a. nachzulesen, wie Henry Smart fortan jahrelang als ein Verräter verfolgt wird.

Dies ist nur eine sehr geraffte und unvollständige Zusammenfassung des Textes, in dem sich Persönliches und Politisches, Fakten und Fiktion miteinander mischen. Die Chronik des ungewöhnlichen eigenen Lebens wird aus der eingeschränkten Perspektive eines Ich-Erzählers dargestellt, die indes streckenweise auf allgemeine Tendenzen und Entwicklungen im ganzen Land ausgeweitet wird, so dass der Leser sich unwillkürlich fragt, ob ein Wechsel zwischen verschiedenen Perspektiven erfolgt oder ob die allwissende Perspektive der dritten Person nicht durchgehend geeigneter wäre. Überhaupt hat man über weite Strecken den Eindruck, mehr einen informativen Bericht zur irischen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu lesen als einen spannenden Roman.

Dazu bleiben viele Fragen offen: der Autor bedient sich einer linearen und realistischen Erzählweise, die einerseits vor abstoßenden, schockierenden Details nicht zurückschreckt, aber andererseits so gut wie nie die Motive oder das Denken und Fühlen der handelnden Personen darlegt. So fragt man sich, warum Henrys Vater sich von seiner Familie trennt, warum die Mutter sich nicht um ihre Kinder kümmert, warum Henry seinen toten Bruder nicht beerdigt, warum er schließlich resigniert und seine Frau und Tochter in Irland zurücklässt, deren beider Schicksal ungewiss bleibt. Damit ergeben sich viele Leer- bzw. Unbestimmtheitsstellen, über die man sinnvoll spekulieren, aber die man mit Hilfe des Textes kaum schlüssig beantworten kann. Die Auswahl und die Kombination der Erzählelemente bilden Episoden, die sich kaum zu einem homogenen Ganzen verdichten.

Eine didaktische Ausgabe (besorgt von Monika Plümer) liegt seit 2008 im Klett-Verlag vor. Sie umfasst bio-bibliographische Informationen unter den Überschriften: "About the author/About the novel". Der Text selbst wird mit Zeilenzählung, mit Sprach- und Sachkommentar in Fußnotenform wiedergegeben. Dieses lay-out ist arbeitspraktisch geradezu ideal; allerdings ist meiner Einschätzung nach der Sprachkommentar auch für leseerfahrene Schüler der S II nicht immer von Lücken frei, so dass sie wohl nicht ganz ohne Wörterbucharbeit auskommen werden. Der Sachkommentar ist indes sehr gründlich, geradezu penibel erstellt: hier erfolgt eine Auflistung und Erläuterung zahlloser landeskundlicher Details, die wesentlich zum Verständnis des Textes beitragen. Hinzu kommen eine Irlandkarte, ein Stadtplan von Dublin und Zusatztexte mit grundlegenden Informationen zur irischen Geschichte im Allgemeinen und zu den speziellen im Roman behandelten Ereignissen im Besonderen.

Weder das Einlesen noch die fortgesetzte Lektüre ist einfach. Der Umfang des Romans erfordert viel Geduld beim Lesen, Disziplin und einen langen Atem, so dass ein Einsatz im fortgeschrittenen Englischunterricht (kurz vor dem Abitur) vor allem bei solchen Schülern sinnvoll erscheint, die ein besonderes Interesse an Irland bzw. gute Vorkenntnisse in der Richtung haben. Wie Monika Plümer sich die methodische Umsetzung des Textes vorstellt, hat sie in einem 2009 erschienenen Lehrerband ausführlich dargelegt (cf. Anzeigen, 11), wobei sie im Prinzip der chronologischen Ordnung des Textes folgt. Meines Erachtens wäre es angesichts der Fülle der Fakten und der Materialien sowie der komplexen Konstellation der Figuren sinnvoll, stark selektiv vorzugehen und zum Beispiel Auszüge aus dem zweiten und dritten Teil von A Star Called Henry intensiv zu besprechen. Die Lehrkräfte des Bundeslandes Niedersachsen haben indes der Tatsache Rechnung zu tragen, dass der Roman zur Zeit zu den obligatorischen Abiturtexten zählt.


Last Updated by Dr. Willi Real on Tuesday, 22 February, 2011 at 11:40 PM.

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